Kapitel 7 – „Es ist viel passiert in zwanzig Jahren“ – Beverly Crusher und die Bitterkeit des langen Schweigens

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Steckbrief
Vorangegangene Serie(n): TNG (Season 1, 3 – 7)
Filme: Star Trek VII – X
Auftauchen in PICARD: Staffel 3
Spezies: Mensch
Geboren: 2324, Copernicus City, Luna
Eltern: Isabel Howard; Paul Howard
Rolle in PICARD: ehemalige Chefmedizinerin der U.S.S. Enterprise-D/-E (2364, 2366 – 2381); nun Ärztin im Dienst der Mariposa-Hilfsorganisation (S.S. Eleos XII)
Kind(er): Wesley Crusher; Jack Crusher
Schauspielerin: Gates McFadden

 

Wohl kaum ein Charakter der alten TNG-Helden hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte so stark verändert wie die einstige Enterprise-Chefärztin Beverly Crusher. PICARD konfrontiert uns mit einer radikal gewandelten Version ihrer selbst, die sich sowohl mit Blick auf äußere Umstände als auch ihr inneres Befinden von vielem abgekehrt hat, was ihre Person einst beschrieb. Diese Veränderungen sind unmittelbar verknüpft mit dem unerfüllten Liebesverhältnis, das Crusher und Jean-Luc Picard über viele Jahre begleitet hat. Es sollte ihren weiteren Lebensweg maßgeblich prägen und in eine vollkommen neue Richtung führen.

 

Wie ging Crushers Leben weiter?

Beverly Crusher verließ die Enterprise im Sommer 2381, wenige Monate, nachdem Picard das Kommando abgegeben hatte, um im Angesicht der romulanischen Supernova-Katastrophe den Oberbefehl über die größte und ausgedehnteste Evakuierungsmission in der Geschichte der Sternenflotte zu übernehmen (Roman I). Wie wir erfahren, verschwand sie vollständig von der Bildfläche und brach auch den Kontakt zu ihren langjährigen Freunden und Kollegen ab. Etliche Jahre später – ab einem Zeitpunkt, der uns nicht bekannt ist – würde Crusher sich mit ihrem zweiten Sohn Jack den Mariposas (Spanisch für ‚Schmetterlinge‘) anschließen, einer karitativen privaten Organisation, die sich der Versorgung von Bedürftigen und Notleidenden mit medizinischen Gütern verschrieben hat. Die Organisation wurde im 21. Jahrhundert auf der Erde von Dr. Teresa Ramirez und Cristóbal Rios gegründet, einem ehemaligen Captain der Sternenflotte, der eine denkwürdige Zeitreise aus dem Jahr 2401 ins Jahr 2024 unternommen hatte (PIC 2×10).

Ab einem Zeitpunkt X erwarben die Mariposas das ehemalige, ausgemusterte Sternenflotten-Kurierschiff S.S. Eleos XII, das Crusher und Jack fortan für ihre humanitäre Mission nutzen durften. Während ihrer schwierigen Einsätze im Grenzland zur Föderation reisten sie in „zerbrochene Systeme“ (darunter etwa Sarnia Prime, Kemiyo, Kaphar, Matalas IV), wo aufgrund des Rückzugs der Planetenallianz bzw. ihres mangelnden Engagements so gut wie jede Versorgungs- und Sicherheitsinfrastruktur fehlt (PIC 3×02; siehe Kapitel 14). Die Zustände sind derart schlimm, dass Jack rückblickend gar von einem in Teilen „gottlosen Universum“ sprechen wird. Crusher und Jack, die einander nicht nur als Mutter und Sohn, sondern als Partner betrachten, haben die notleidenden, im Stich gelassenen oder unterdrückten Welten in erster Linie mit Ausrüstungsgütern und Vorräten beliefert. Da die Eleos auch als „Hospitalschiff“ bezeichnet wird (übrigens eine spannende Parallele zur U.S.S. Pasteur, die Crusher in Qs fiktiver Zukunft im TNG-Finale kommandiert), mag es sein, dass dort auch gelegentlich Behandlungen stattgefunden haben. Aufgrund des Fehlens jeglicher Sternenflotten-Unterstützung waren und sind sie auf Kooperation mit anderen Gruppen angewiesen, darunter die Fenris-Rangers, die ebenfalls in einigen Krisensystemen als Schutz- und Hilfsakteure aktiv sind. Immer wieder ist es vorgekommen, dass Vertreter dieser Gruppen nicht ganz uneigennützig agierten, weshalb Crusher und ihr Sohn gelernt haben, mithilfe von Incentives (z.B. Mitführung von romulanischem Ale) Übereinkommen zum gegenseitigen Nutzen zu erzielen.

Jack und ich helfen Bedürftigen auf Welten, die die Sternenflotte vergessen hat.“ (Beverly Crusher in PIC 3×03)

Obwohl die beiden bemüht waren, legale Antworten auf die Versorgungskrisen zu finden, die sie lindern wollten, sahen sie sich angesichts von akutem Materialmangel, chaotischer Zustände und krimineller Strukturen in den Zielsystemen zunehmend genötigt, alternative Lösungen zu ergreifen. Daher zapften sie vermehrt halblegale Quellen an; sie verstießen zuweilen gegen planetare, interstellare und auch Föderationsgesetze, und Jack spezialisierte sich darauf, zu ihrem Vorteil mit verschiedenen Identitäten zu arbeiten. Manchmal erwarben sie auch Waffen, um diese dann gegen Medikamente einzutauschen. All diese unsauberen Methoden nahmen sie allerdings bereitwillig in Kauf, um ihre wohltätigen Motive in die Tat umsetzen zu können.

Ach, dann sind Sie ein Freiheitskämpfer?“ – „Nur so, wie ein Arzt darum kämpft, dass sein Patient die Freiheit zu leben hat. Dann bin ich das bestenfalls. Und schlechtestenfalls bin ich ein Dieb.“ – „Gestohlenes medizinisches Material, aber auch gestohlene Waffen und andere verbotene Fracht.“ – „Währung ist Währung, und Medizin ist nicht kostenlos.“ (Jean-Luc Picard und Jack Crusher in PIC 3×02)

 

Welche charakterlichen Veränderungen hat Crusher durchlaufen?

Bei unserer Wiederbegegnung mit Beverly Crusher sehen wir eine Frau, die äußerst taff ist. Es ist eine Person, die sich ein ‚dickes Fell‘ zugelegt hat und die zum Erreichen ihrer Ziele gelernt hat, ihre Methoden einigermaßen flexibel anzupassen. Aus der Bereitschaft, im Zweifel illegale Methoden der Gewinnung von speziellem Ausrüstungsgut zu ergreifen, spricht gerade bei einer vormaligen Flaggschiffoffizierin wie Crusher eine tiefe Desillusionierung in Bezug auf die Sternenflotte sowie die politische Ausrichtung der Föderation. Selbst, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Tätigkeit für die Mariposas bereits seit etlichen Jahren nicht mehr im Dienst ist, hat sie ihre Einstellung zu gesetzes- und regelkonformen Handlungen offenbar grundlegend überdacht. Beverly Crusher, wie sie uns im 25. Jahrhundert gegenübertritt, ist unter dem Banner humanitärer Hilfe in persönlicher Sache unterwegs, weil sie den Gedanken nicht ertragen kann, dass in der Nachbarschaft der Föderation ganze Planeten an Krankheit, Armut und Krieg leiden, ohne dass der interstellare Völkerbund für Stabilisierung und Entlastung sorgt. Infolgedessen ist Crusher gewillt, Risiken und Gefahren einzugehen, um einen Beitrag zur Linderung der Not zu leisten, während sie im teils dubiosen Graubereich anarchischer Raumgebiete operiert.

Wir können also deutlich erkennen, dass der altruistische Kern ihrer Persönlichkeit, wie er sie in TNG beschrieben hat, gleichgeblieben ist. Demgegenüber haben sich im Laufe der Zeit andere Koordinaten ihres Charakters verschoben. Crusher hat sich im Zuge des Zusammenbruchs ihres einstigen Weltbilds in vielerlei Hinsicht Denk- und Vorgehensweisen angenähert, wie man sie etwa bei den Fenris-Rangers findet. Sie hat erkannt, dass die bedauernswerte Realität der politischen Großwetterlage dazu geführt hat, dass Leute wie sie entschlossen sein müssen, auch einmal Grenzen zu überschreiten, um Gutes im All bewirken zu können. So ist es für sie akzeptabel geworden, bei Bedarf auch Diebstahl, Bestechung, problematische Deals mit moralisch fragwürdigen Partnern und aggressivere Umgangsformen zu ergreifen, um darbenden Planeten wirksam zu helfen. Im Zuge dessen hat sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit Waffen enorm erweitert, wie wir bereits in der allerersten Szene von Season drei feststellen dürfen. Zum Ende der Staffel wird sie dann auch unter Beweis stellen können, dass sie die taktischen Systeme eines Sternenflotten-Kreuzers bestens zu bedienen weiß (PIC 3×10).

Das war nur eine Ablenkung. Um sie hier zur Strecke zu bringen. Eiskalt und effizient. Ähnelt nicht der Beverly, die ich kenne.“ (William Riker in PIC 3×01)

Später werden wir sehen, wohin die allmähliche Erodierung ihrer einstmals so unverrückbaren Grundsätze Crusher im Laufe der Handlung treibt. Bedroht und gejagt von einer fremden Macht, die ihr und ihren Liebsten überall hin zu folgen scheint, ist die einstmals so standfeste Chefärztin der Enterprise immer mehr bereit, Abstriche zu machen und sogar elementare Ausnahmen in ihrer Ethik zuzulassen. Diese abschüssige Bahn, auf die sie sukzessive gerät, ist gerade bei ihrer Figur so frappierend, da wir uns an unzählige Momente erinnern, in der Crusher den Hippokratischen Eid gegen alle Zweifel, Widerstände oder Gegenargumente hochhielt. Alleine hierzu könnte man vermutlich einen eigenen Artikel verfassen.

Ich habe den Eid geschworen, niemandem hier Schaden zuzufügen. Doch Sie sollten wissen, dass ich das gerade überdenke.“ (Beverly Crusher in PIC 3×07)

Viele dieser scharfen Brüche mit ihrem früheren Ich wären vermutlich so nicht oder jedenfalls in anderer Weise eingetreten, hätte sie nicht ein ganz besonderes Verhältnis mit Picard geteilt. Dieses Verhältnis war letztlich aber von einer unerfüllten und sogar tragischen Entwicklung bestimmt, was in direkter Weise zu Crushers Ausstieg aus der Sternenflotte führte.

 

Crusher hat gelernt, viele Dinge auf die harte Weise handzuhaben. © 2020-23 CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

 

So war es immer bei uns“: Crushers und Picards unstete Beziehung

All die TNG-Jahre warteten und hofften wir als Zuschauer vergeblich: Was William Riker Dekaden später als „Experiment“ (PIC 3×03) bezeichnen würde, hatte insgesamt eine eher enttäuschende Bilanz. Wenn Beverly Crusher und Jean-Luc Picard sich annäherten, so mochten hier und da ein paar romantische Funken sprühen, doch es war nicht von Dauer. Ein Captain und seine Chefärztin standen buchstäblich zwischen Baum und Borke. So sehr sie einander auch zugeneigt waren: Konnten oder wollten sie sich nicht festlegen, ein Liebespaar zu werden? Vermutlich etwas von beidem. Auf der Enterprise während ständig wechselnder Missionen war es schwierig bis unmöglich, eine dauerhafte Beziehung einzugehen, zumal Picard bereits erlebt hatte, wie potenziell kompromittiert die Entscheidungen eines Captains werden können, wenn ihm an einem Crewmitglied besonders viel liegt (TNG 6×19). In Crushers und Picards Fall kommt jedoch noch ein Spezifikum hinzu. Man muss ihnen zugute halten, dass ihre Unentschlossenheit, ja Unsicherheit, sich aufeinander einzulassen, seine Wurzeln in ihrer beider Vergangenheit hat. Wahrscheinlich ist diese Vergangenheit sogar der Hauptgrund, weshalb aus einer ganzen Reihe von zaghaften Neuanläufen nichts wurde. Damit hatten Crusher und Picard als Paar eigentlich bereits Schiffbruch erlitten…und doch sollte die Beziehung zwischen beiden Jahrzehnte später eine ganz neue Wendung nehmen.

 

Warum war Picard so lange zurückhaltend?

Wann Picard romantische Gefühle für Beverly Crusher zu empfinden begann, ist nicht klar, doch Picard war zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich noch Kadett an der Akademie der Sternenflotte. Wir wissen nicht, wann Beverly sich selbst an der Akademie einschrieb, doch ihre erste Begegnung fand statt, nachdem Picard bereits mit Jack R. Crusher Freundschaft geschlossen hatte, mit dem er noch als Offiziersanwärter erste Abenteuer bestritt (PIC 3×04). Jack stellte ihm so seine damalige Gefährtin Beverly Howard wohl eines Tages vor, ehe sie selbst die Offizierslaufbahn einschlug. Zwischen Jack und Picard bestand von vorneherein ein enges Band, sodass letzterer es nicht hätte mit seinem Gewissen vereinbaren können, zuzugeben, dass er Gefühle für die Frau seines besten Freundes hegte. Und doch gibt es in TNG Hinweise, dass es Picard nicht so ganz leicht fiel, gute Miene zu machen, als Beverly und Jack sich schließlich verlobten und heirateten. Vieles deutet darauf hin, dass über die Freundschaft mit Jack auch Beverly und Picard sich kennen und schätzen lernten, denn zu einem späteren Zeitpunkt in der Zukunft offenbarte Beverly ein recht genaues Wissen über den Kadetten Jean-Luc Picard (IX: Der Aufstand; X: Nemesis). Später diente Jack unter Picards Kommando an Bord der U.S.S. Stargazer (TNG 1×09), und sie bauten ihre bereits seit Akademiezeiten bestehende intensive Freundschaft weiter aus.

Der Grund für Picards Jahrzehnte währendes Verheimlichen der eigenen Gefühle für Beverly Crusher war also v.a. ein moralischer gegenüber seinem besten Freund. Nie hätte er gewagt, sich dem Glück von Beverly und Jack in den Weg zu stellen, die um 2348 mit Wesley einen Sohn bekamen (TNG 4×02). Nachdem Jack auf einer Stargazer-Mission 2353 ums Leben gekommen war, hatte Picard die schwere Pflicht, Beverly über den Tod ihres Mannes zu unterrichten (TNG 1×01; 5×12). In den kommenden Jahren erschien es ihm noch unmöglicher, sich Beverly eines Tages anzuvertrauen, selbst wenn eine gewisse Zeit seit Jacks Tod verstrichen sein mochte. Zu sehr fürchtete Picard, das Andenken an die besondere Freundschaft mit Jack zu beschmutzen. Gerade jetzt floh er vor seinem Eingeständnis mehr denn je zuvor. Womöglich misstraute er sich auch selbst und sah – jetzt, wo Jack nicht mehr da war – die Gefahr, er könnte sich, wenn er Beverlys Nähe suchte, zu etwas hinreißen lassen, das er bereuen würde. Einige Jahre nach Jacks Tod, als Wesley gerade ein paar Jahre alt war, brach der Kontakt zwischen Crusher und Picard weitgehend ab. Es ist anzunehmen, dass Picard dabei die entscheidende Rolle spielte, aus den oben genannten Gründen. Und natürlich war es so, dass Jack die zentrale Verbindungslinie zwischen Beverly und ihm gewesen war; mit ihr Zeit zu verbringen, bedeutete, ständig die Erinnerungen an ihren gemeinsamen schweren Verlust wachzurufen (und damit Picards weiterhin ausgeprägtes Schuldgefühl, dass er Jack nicht hatte retten können). Und wer weiß, vielleicht triggerte der Schmerz über den Tod einer so nahe stehenden Person wie Jack auch Picards eigenes Kindheitstrauma, das mit Depression und anschließendem Suizid seiner Mutter zu tun hat (PIC 2×07). Allem Anschein nach stürzte sich Picard nun umso mehr in neue Missionen mit der Stargazer, während derer er vieles von dem Ruf erwarb, der ihn später umgeben sollte.

 

Was wurde aus dem Wiedersehen und Neuanfang an Bord der Enterprise?

Rund zehn Jahre nach Jacks Tod, Anfang 2364, kam es zu einem unerwarteten Wiedersehen mit Beverly Crusher, als Picard das Kommando der Enterprise-D übernahm (TNG 1×01; 1×02). Es ist nicht ganz klar, was beide eigentlich auf dem Flaggschiff zusammenführte. Offensichtlich war Picard anfangs nicht begeistert, dass Crusher seine neue leitende medizinische Offizierin wurde – so sehr er ihre Kompetenzen als hochqualifizierte Medizinerin auch schätzte –, was darauf hindeutet, dass sie jedenfalls nicht seine Wunschbesetzung gewesen sein kann. Wahrscheinlicher erscheint es, dass Crusher selbst, über ihre respektable Dienstakte sowie eigene Kanäle in der Sternenflotte, alles daran gesetzt hatte, an Bord der Enterprise zu kommen. Woran mag dies gelegen haben? Wir können wohl drei wesentliche Gründe anführen:

  • Erstens hatte Crusher inzwischen ihre Trauer verarbeitet und an neuer Festigkeit gewonnen. Sie hatte sich geschworen, ihre eigene Karriere fortzusetzen und damit in gewisser Weise auch Jacks Berufung als Sternenflotten-Offizier treu zu bleiben (TNG 4×02).
  • Zweitens bot die Entwicklung der neuartigen Raumkreuzer der Galaxy-Klasse ganz neue Möglichkeiten, die Arbeit für die Sternenflotte und das Familienleben in Einklang zu bringen. Die Enterprise war dereinst erst die dritte fertiggestellte Vertreterin dieser bis dato beispiellosen Schiffsgattung gewesen. Für Crusher stellte eine solche Umgebung also eine ideale Gelegenheit dar, ihren Sohn großzuziehen und zugleich ihrer eigenen Tätigkeit als Medizinerin nachzugehen. Mehr noch: Hier, an Bord eines Explorers der Galaxy-Klasse, konnte sie mit neuesten wissenschaftlich-technologischen Mitteln Grenzmedizin betreiben, wofür sie brannte.
  • Der dritte Grund hat vermutlich mit Wesley zu tun, und in gewisser Weise auch mit Picard. Im Gedenken an ihren Ehemann wollte Crusher nicht nur selbst der Sternenflotte die Treue halten, sondern hegte durchaus den Wunsch, dass sich ihr hochintelligenter und talentierter Sohn eines Tages für den Dienst in der Raumflotte begeisterte. Selbst wenn Crusher die Dinge zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung für den Posten der Enterprise-Chefärztin noch nicht klar absehen konnte, spielte die Tatsache, dass sie wieder mit Picard in Kontakt treten würde, eine wichtige Rolle. Nachdem sie den Schmerz über Jacks Verlust verarbeitet hatte, blickte sie nach vorne. Picard, der selbst keine Kinder hatte, mochte der ideale Mann sein, um Wesley einerseits etwas von dem mitzugeben, was Jack ausgemacht hatte, und andererseits als Mentor zu fungieren.

Rückblickend betrachtet kann man wohl sagen, dass sich Crushers Hoffnungen weitgehend erfüllten, auch wenn es anfänglich gewisse Anlaufschwierigkeiten gab. Zunächst fiel es Picard nicht ganz leicht, mit seiner neuen Chefmedizinerin zusammenzuarbeiten, doch mit der Zeit entkrampfte sich ihr Miteinander. Das fing damit an, dass Crusher ihn frühzeitig wissen ließ, dass sie ihm nie eine Schuld am Tod ihres Mannes gegeben hatte, was er lange Zeit vermutet oder befürchtet hatte (TNG 1×01; 1×02). Die neue Grundlage als Offizierskollegen war hilfreich; vermutlich auch der Umstand, dass das Verhältnis zwischen ihnen aufgrund ihrer mehrjährigen Distanz zueinander etwas abgekühlt war. Allerdings zeichnete sich auch rasch ab, dass sie aufgrund der Vergangenheit, die sie miteinander teilten, niemals ein ganz normales Dienstverhältnis haben würden. Hinzu kam, dass nicht nur Picard sich nach wie vor von Crusher angezogen fühlte (selbst wenn er dies hinter seiner disziplinierten Fassade verbarg), sondern auch sie seine Nähe suchte. Bei beiden waren romantische wie stark freundschaftliche Gefühle im Spiel, was in Verbindung mit dem jungen Wesley (dessen Förderung und Fürsprache sich Picard tatsächlich rasch annahm; TNG 1×19; 2×17; 4×09) eine besondere Dynamik schuf. So durften wir bereits in Season eins verfolgen, wie Crusher und Picard hier und da – und manchmal nicht unbedingt gleichzeitig – mit ihren aufkeimenden Gefühlen rangen (z.B. TNG 1×03; 1×12; 1×21; 1×24). Diese wurden jedoch letztlich wieder der professionellen Struktur auf der Enterprise untergeordnet.

Im Laufe der Jahre – und nachdem Crusher infolge eines einjährigen Aufenthalts im medizinischen Hauptquartier auf der Erde wieder zur Enterprise zurückkehrte (TNG 3×01) – entwickelte sich ihre Beziehung weiter und festigte sich. Picard, ein an und für introvertierter Mann, ließ mehr private Nähe zu. So wurde es in späteren TNG-Episoden normal, dass Crusher und er morgens miteinander frühstückten, über anstehende Missionen fachsimpelten oder sich über Gott und die Welt unterhielten. Er schätzte ihre Gegenwart und ihren Rat als gute Freundin. Doch während Crusher sich nun mehr zu versprechen schien (wie die TNG-Episode 3×18 mit einem romantisierenden Alien-Doppelgänger Picards offenlegt), war es ihm wichtig, ihre Freundschaft beizubehalten und keiner Gefährdung auszusetzen. Zudem spielte das Andenken an Jack für ihn nach wie vor eine bedeutende Rolle. Dann, im siebten Missionsjahr der Enterprise, ereignete sich ein denkwürdiger Zwischenfall, der die Frage einer möglichen Liebesbeziehung neu aufwarf. Crusher und Picard beamten auf den Planeten Kesprytt, welcher sich um eine Mitgliedschaft in der Föderation bewarb. Dort gerieten sie jedoch in einen Konflikt zwischen zwei verfeindeten indigenen Spezies, die in Bezug auf eine Föderationsmitgliedschaft unterschiedliche Ziele verfolgten. Infolgedessen erhielten beide Implantate, die den Einen an den Anderen fesselten und eine telepathische Verbindung generierten (TNG 7×08).

Jean-Luc, ich habe Sie gehört. Weisen Sie es nicht von sich. Als ich ‚Jack und ich’ sagte, habe ich eine Welle gespürt. Eine Welle von…Gefühlen. Ich wusste nicht, dass Sie so empfinden.“ (Beverly Crusher in TNG 7×08)

Auf diesem Weg erfuhr Crusher schließlich von seinen starken Gefühlen für sie, die er gelernt hat, unter der Oberfläche der Professionalität und Kameradschaft zu kontrollieren. Am Ende der Mission erwog Picard sogar, sich endlich zu ihr zu bekennen und eine Beziehung mit ihr anzufangen, jetzt, da sie die ungeschminkte Wahrheit erfahren hatte. Doch es war Crusher, die dies nun ablehnte, weil ihr die platonische Verbindung zu ihrem Captain zu wichtig geworden war. Trotz Crushers Entscheidung veränderte sich ihr Verhalten gegenüber Picard recht bald wieder. In Situationen, in denen sie merkte, dass er sie brauchte, übersprang sie einstige Grenzen der Kollegialität und Freundschaft teils instinktiv, teils bewusst. Der Höhepunkt dessen war vermutlich, als sie ihn in seinem Bereitschaftraum küsste, nachdem sie bei ihm – vermeintlich – das seltene Irumodische Syndrom diagnostiziert hatte (TNG 7×25; 7×26). In diesem Moment mag Crusher bewusst geworden sein, wie kostbar Zeit ist und dass sie den Schritt wagen sollten, einfach ihrem Herzen zu folgen.

 

Wie ging es nach TNG für Crusher und Picard weiter?

Dennoch kam es nie zu einer richtigen Liebesbeziehung. Crusher und Picard pflegten weiterhin ein Verhältnis, das sich im Fluss, irgendwo zwischen Freundschaft und Romanze, befand. Diese Entwicklung war aber keine stetige, denn Picard hatte 2375, Jahre später, noch eine Affäre mit der Ba’ku Anij (IX: Der Aufstand). Dagegen schien Crusher keine Einwände zu haben, da sie ihre primäre Rolle wohl immer noch in erster Linie als Picards enge Kameradin und Chefärztin verstand. Möglicherweise wartete sie aber auch ab einem gewissen Zeitpunkt darauf, dass Picard sich zu ihr bekannte. Über diese Phase fehlt uns leider das kanonische Material, das Hinweise auf ihre zwischenmenschliche Situation gibt.

Indes erfahren wir aus der PICARD-Episode 17 Sekunden (aus der Gegenwart des Jahres 2401) in einem ausführlichen Vier-Augen-Gespräch zwischen Crusher und Picard, dass sie eine Reihe von Anläufen hatten, ihr romantisches Verhältnis wiederzubeleben – zu welchen Zeitpunkten wissen wir nicht. Picard spricht von „fünf Malen“, bei denen sie ihre zaghafte Liebesbeziehung kurz darauf wieder ad acta legten. In dieser Szene mit Crusher ist jedoch aus verschiedenen Gründen unklar, ob er ein zuverlässiger Erzähler seiner selbst ist, weil bei ihm eine Menge an widerstreitenden Gefühlen hochkommt. Da wir seit Gestern, Heute, Morgen (was bezogen auf die dritte PICARD-Staffel mehr als 30 Jahre in der Vergangenheit liegt) in den TNG-Kinofilmen nie mehr einen Hinweis auf eine romantische Annäherung der beiden Charaktere gesehen haben, erscheint es zutreffender, dass diese Versuche im Anschluss an Nemesis erfolgten. Nach dem Verlust Datas sowie dem Weggang von William Riker und Deanna Troi auf die Titan mag Picard bewusst geworden sein, dass er die Gegenwart nicht dauerhaft aufrechterhalten konnte und Veränderungen im Leben zulassen musste. Es erscheint insofern plausibel, dass Crusher und Picard v.a. zwischen Herbst 2379 und Sommer 2381 sich in Sachen Liebesbeziehung probierten – und offenbar prompt wieder aufgaben. Im Anschluss an diesen Zeitraum verließ Picard die Enterprise (Roman I).

 

The Big Goodbye

Um jene Zeit herum, als Picard in seine neue Verantwortungsposition geriet und in den Rang eines Admirals aufstieg, waren er und Crusher offenbar romantisch involviert, wobei unklar ist, ob die letzte (fünfte?) Romanze noch in den finalen Wochen seines Kommandos der Enterprise begann oder bereits mehrere Wochen nach dessen Aufgabe. Klar ist aber, dass der abschließende Versuch, zusammen zu sein, mit Picards neuer Position an der Spitze der Sternenflotten-Rettungsmission überlappte – was zu verschiedenen kurzfristigen und langfristigen Kollateralschäden führte. Kurzfristig hatten Crusher und Picard noch größeren Zeitdruck, ja sie hatten kaum noch Spielraum für sich. So berichtet Crusher anno 2401 anlässlich ihrer Wiederbegegnung, dass sie ihren letzten gemeinsamen Tag auf dem Erholungsplaneten Casparia Prime verbrachten und ihnen die Zeit mehr denn je im Nacken gesessen habe, weil Picard früher als erwartet zurückgerufen worden sei („Ein perfekter Tag mit geborgter Zeit“). Dies klingt nicht so, als hätten sie da noch einen gemeinsamen Dienstort gehabt, und es bestätigt, in was für einer Ausnahmesituation Picard auf seinem neuen Admiralsposten agieren musste (siehe Kapitel 3). Unter diesen ziemlich hoffnungslosen Vorzeichen, so klingt es bei Crusher, trafen sie sich auf Casparia, um den unsicheren Status ihrer in der Schwebe verharrenden Beziehung zu klären. An diesem Tag fand offenbar eine Art Aussprache statt, und sie kamen überein, dass es in Anbetracht der schwierigen Ausgangslage für sie besser war, ihre Beziehung auf Dauer zu beenden. Zwei Monate später verließ Crusher die Enterprise (inzwischen unter Worfs Kommando); sie beendete abrupt ihren Dienst bei der Sternenflotte. Picard und sie würden einander für die nächsten 20 Jahre nicht mehr sehen oder voneinander hören. Dies hatte Picard in keiner Weise vorgehabt oder gewünscht, als er sich mit ihr einigte, dass sie als Paar keine Zukunft hatten. Hingegen hatte Crusher diese Entscheidung in eigener Sache getroffen.

Du musstest früher wieder zurück. […] Wir hatten immer die Zeit im Nacken. An dem Tag vielleicht noch mehr als an jedem anderen. Weil wir beide wussten, dass es das Ende für uns war.“ – „Ich nicht. Ich wusste nicht, dass ich Dich nie wiedersehen würde. Dass ich mich jahrelang fragen würde, was ich getan hatte. Ich hätte ja nicht ahnen können, dass es nur darum ging, was Du getan hattest.“ (Beverly Crusher und Jean-Luc Picard in PIC 3×03)

 

Crushers folgenschwere Entscheidung

Wie sich herausstellen würde, war Crusher trotz der Übereinkunft, dass sie als Paar am Ende waren, während ihres letzten gemeinsamen Tages auf Casparia schwanger geworden. Wie passt das zusammen? Offenbar gar nicht. Sie hatten miteinander geschlafen, und doch wollten sie keine Beziehung mehr. Es lässt sich noch weiter zuspitzen: In PIC 3×01 teilt Picard Riker mit, Crusher und er hätten sich „nicht Gerade im Guten getrennt“. Dieses Ergebnis ihres Treffens offenbart jene Zerrissenheit, die Crusher und Picard bereits in ihren Tagen auf der Enterprise-D anhaftete. Es ist möglich, dass sie, indem sie ein allerletztes Mal bewusst romantisch auflebten, einen würdevollen Schlusspunkt setzen wollten, um dann mit ihren eigenen Leben fortzufahren. Doch in gewisser Weise setzte dieses Treffen eben keinen Schlussstrich unter ihre unstete Beziehung. Stattdessen verlängerte es sie in neuer und auch verhängnisvoller Weise in die Zukunft.

Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie ein Kind von Picard erwartete, traf Crusher die denkbar folgenschwerste Entscheidung: Nicht nur quittierte sie – anscheinend unter falschem Vorwand – ihren Dienst und zog sich vollständig aus ihrem jahrelangen Umfeld zurück, sondern sie weihte auch Picard in keiner Weise dahingehend ein, dass er einen leiblichen Sohn haben würde. Dieser Umgang mit ihrer Schwangerschaft ist jedenfalls nicht nahe liegend und verlangt nach einer Erklärung – die Picard bei ihrem Wiedersehen auch aktiv einfordert. Die Erklärung, die Crusher ihm anbietet, bezieht sich wenigstens zum Teil auf den langfristigen Kollateralschaden, der sich aus Picards neuer Position als Admiral ergab. So betont Crusher, sie habe ihn ursprünglich einweihen wollen, doch dann hätten sich im Angesicht der angelaufenen romulanischen Rettungsmission die Ereignisse überschlagen. Sie nennt eine Reihe von Übergriffen und Anschlagsversuchen auf Picard, darunter seine mehrtägige Entführung durch Flüchtlinge von Kalara V, die wegen der Umsiedlung von Romulanern in ihre Umgebung wütend waren, aber auch Attacken remanischer Attentäter auf die zu diesem Zeitpunkt im Donatra-Sektor befindliche Verity sowie einen Anschlag mittels einer Photonengranate bei Picards Verhandlungen mit dem romualnischen Prätor (PIC 3×03). Diese und andere Vorkommnisse, die allesamt gezielte Angriffe auf Picards Leben waren, ließen Crusher ihr ursprüngliches Vorhaben, ihn wenigstens ins Vertrauen zu ziehen, grundsätzlich überdenken. Weit später lässt sie ihn wissen, dass es ihr in Anbetracht solcher Vorfälle unmöglich gewesen sei, ein Kind mit ihm zusammen großzuziehen oder ihm auch nur die Möglichkeit zu geben, von seinem leiblichen Sohn zu erfahren. Sie zog sich vollständig zurück und brach alle Brücken hinter sich ab. Niemand ihrer alten Freunde von Enterprise hörte noch von ihr oder wusste, wo sie sich aufhielt.

Da war mir vollkommen klar, dass es so immer weiter gehen wird. Sie werden immer auf der Tagesordnung bleiben: diese Angriffe auf Dein Leben. […] Als ich mit Jack schwanger war, hatte ich ständig furchtbare Angst. Denn eines war mir klar: Wer der Sohn von Jean-Luc Picard ist, trägt eine Zielscheibe auf dem Rücken.“ (Beverly Crusher in PIC 3×03)

 

Crushers (Neu-)Interpretation der Dinge

Die Begründung, dass Picards Lebensumstände ihn derart exponierten, dass ein Sohn ständigen Gefahren ausgesetzt sein würde, erscheint vergleichsweise gut nachvollziehbar. Auch wenn sie Picard überging und entmündigte, hatte Crusher sicherlich nicht Unrecht mit ihrer Einschätzung, dass insbesondere die Wirren der romulanischen Rettungsmission zu einer ständigen Gefährdungslage für eine mögliche Picard/Crusher-Familie führen würden. In 17 Sekunden führt sie jedoch noch weitere Rechtfertigungen an, weshalb sie es unterließ, Picard über seinen Sohn in Kenntnis zu setzen.

Durchaus in Verbindung mit den enormen Gefahren, die seine Arbeit mit sich brachte, bezweifelte sie, dass Picard sich bereiterklärt hätte, wegen eines Sohnes seine Berufung aufzugeben und sich fortan dem Schutz und der Fürsorge seiner Familie zu verschreiben. Auch hier hat sie einen echten Punkt: Picard – der nach eigener Aussage die Sternenflotte als seine (Ersatz-)Familie betrachtet hat (PIC 3×04) – lebte stets für seine Arbeit, ohne Wenn und Aber. Die Evakuierungsmission in romulanischem Raum stellte für ihn einen moralischen Imperativ dar, dem er sich nicht hätte verweigern können. Ja, es war wohl die Mission seines Lebens.

Jean-Luc, wenn die Galaxis mal wieder nach Dir ruft, dann lässt Du Dich doch nicht zweimal bitten. Genau das liebst Du doch. Sag mir nicht, Du wärest nicht gleich losgeflogen.“ (Beverly Crusher in PIC 3×03)

Im Folgenden führt Crusher weitere Argumente für ihre schwerwiegende Entscheidung ins Feld. Dabei bezieht sie sich auf Picards angebliche Lebensplanung:

Wieder und wieder hast Du mir gesagt, dass Du nie eine Familie haben wolltest! Dass Du nie ein Vater sein könntest, weil Du zu große Angst hast, wie Dein eigener zu werden!“ (Beverly Crusher in PIC 3×03)

Picards zum damaligen Zeitpunkt – möglicherweise – nicht vorhandenen Kinderwunsch gegen ihn zu verwenden, erscheint wenig fair. Als Ärztin müsste Crusher wissen, dass Vater- und auch Mutterschaft in vielen Fällen nichts ist, das per se feststeht (so nach dem Motto: Zum Vatersein muss man gemacht worden sein), sondern sich entwickelt, sobald ein Kind erst einmal da ist. (Sie hatte eben dies Picard noch in TNG 7×22 gesagt, als dieser kurzzeitig vom Ferengi Bok glauben gemacht wurde, er habe einen Sohn.) Zugleich scheint Crusher auch darauf anzuspielen, dass Picard in seinem bisherigen Leben keine gerade große Nähe zu Kindern gehabt habe. Tatsächlich sahen wir zu Beginn von TNG einen Captain, der bekannte, sich in der Gegenwart von Kindern unwohl zu fühlen und sogar seinen neuen XO bat, diese von ihm fernzuhalten (TNG 1×01; 1×02). Doch Picard hat seitdem eine allmähliche Entwicklung durchlaufen, die sein Verhältnis zu Kindern und Teenagern stark entkrampft bis normalisiert hat (z.B. TNG 1×17; 2×17; 4×04; 5×05; 7×22). Im Lichte seiner Erfahrungen auf der Enterprise konnte er wohl besser mit Kindern und Jugendlichen umgehen, als er zu Anfang selbst von sich angenommen hatte. Seine vergleichsweise herzliche, wenn auch zeitlich gesehen kurze Beziehung zu seinem Neffen René (TNG 4×02; VII: Treffen der Generationen) führt Crushers vermeintliches Argument noch mehr ad absurdum.

Umso gewagter erscheint es also, davon auszugehen, Picard hätte in keiner Weise Wunsch oder Bereitschaft gehabt, eines Tages ein Kind in die Welt zu setzen, ja dass er ein solches zurückgewiesen hätte. Vielmehr wird in 17 Sekunden angedeutet, dass Picard in Anbetracht der Niederkunft von Rikers Sohn Thaddeus seltsam wehmütig wirkt. Mochte sein Wunsch nach Vaterschaft nicht mit Händen zu greifen und durch Unsicherheiten (seine problematische Kindheit) getrübt gewesen sein, erscheint es durchaus nahe liegend, dass er sich der Vorstellung eines eigenen Nachkommen immer mehr angenähert hat – gerade nach dem Verlust seines Bruders und seines Neffen. Dass er diesen Gedanken nicht in die Tat umsetzte, ist ebenfalls wenig überraschend. Wieso sollte Picard aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und seiner unsteten Lebensumstände annehmen können, einem Kind günstige Möglichkeiten des Aufwachsens bieten zu können? Es scheint so, als habe Picard weniger mit dem Gedanken einer Familiengründung gefremdelt als er vielmehr glaubte, dass dieser Zug für ihn bereits abgefahren sei. Crushers Einlassung, eine Vaterschaft sei für ihn nie in Frage gekommen, erscheint also vorgeschoben. Picard gerät über diese beinahe etwas verzweifelt wirkende Rechtfertigung zu Recht in Rage:

Missbrauche nicht meine Vergangenheit als Rechtfertigung, um Dir selbst Dein Handeln schönzureden! Wie kannst Du es wagen, mein Geständnis über meinen Vater und meine Ängste zu benutzen, um zu verhindern, an der wichtigsten Entscheidung meines Lebens teilzuhaben?!“ (Jean-Luc Picard in PIC 3×03)

Besonders aufhorchen lässt eine überraschende Erklärung von Crusher, die auf eine nicht unbeträchtliche Neubewertung ihres früheren Lebens schließen lässt. Diese ist von allen Begründungen die tiefgehendste und kontroverseste, aber womöglich auch die interessanteste und in ihrem Empfinden wahrhaftigste. So teilt sie Picard mit:

Ich habe meine Eltern verloren, dann meinen Mann, dann meinen Sohn Wesley. Und alle an dieselben Sterne, zu denen auch Du aufsiehst. [Im Englischen: „[…] All to the same stars that own you.”] Als Mutter ist es das Wichtigste, für den Schutz ihres Kindes zu sorgen. Ich dachte, dass ich mein Kind beschützen könnte, und ich wusste nicht, ob ich ein Kind von Dir beschützen kann.“ (Beverly Crusher in PIC 3×03)

Es klingt hier ein gehöriges Stück weit so, als mache sie Picard implizit dafür verantwortlich, was ihrem Mann und ihrem Sohn Wesley widerfahren ist. Es schwingt zumindest ein gewisser vorwurfsvoller Ton in ihren Worten, Picard könnte unwissentlich mitbeeinflusst haben, weshalb sich ihre Familie um sie herum auflöste und sie letztlich allein zurückblieb. Doch Picard trägt natürlich keine Schuld an Jacks oder Wesleys Schicksal. Im Gegenteil, bei genauerem Hinsehen wusste Crusher doch recht genau, worauf sie sich als Sternenflotten-Offizierin einließ, als sie – aus freien Stücken – mit Wesley an Bord der Enterprise-D ging. Während etlicher Missionen waren sie und Wesley dort handfesten Gefahren ausgesetzt, aber dies bewegte sie in TNG nie zu einem Umdenken. Auch ihr Mann Jack kannte fraglos das Risiko des Militärdienstes. Wäre es möglich, dass Crusher sich diesen latenten Vorwurf in Picards Richtung im Laufe der Jahre unbewusst zurechtlegte, um eine gewisse Entlastung von ihrer damaligen Entscheidung zu haben, Picard seinen Sohn vorzuenthalten? Crushers Lebensweg führte sie immerhin in eine neue, schwierige Richtung, die für sie große Entbehrungen und streckenweise wohl auch gewisse Zweifel bereithielt. Daher erscheint es auf einer (tiefen-)psychologischen Ebene denkbar, dass sie, indem sie Picard eine Verantwortung hierfür zuschob, sich das Ganze tatsächlich besser zurechtdeuten konnte (Picard spricht nicht von ungefähr von ‚schönreden‘).

Apropos Wesley: Auch hier scheint eine Umdeutung der Ereignisse stattgefunden zu haben. Wieso geht sie eigentlich davon aus, sie hätte Wesley „verloren“? Das hat sie nicht, vielmehr ging Wesley freiwillig von Bord. Crusher konnte doch nicht annehmen, ihr Sohn würde immer in ihrer Nähe bleiben. Wenn er nicht mit dem Reisenden fortgegangen wäre (TNG 1×06), hätte er mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Sternenflotten-Karriere eingeschlagen, die ihn dauerhaft von ihr fortgeführt hätte, denn Wesley wäre auf verschiedenen Posten quer durch die Föderation tätig gewesen. In der TNG-Episode Am Ende der Reise (7×20) wirkte Crusher zwar traurig, aber gefasst und freute sich durchaus für ihren Sohn, dass dieser sich zusammen mit dem Reisenden auf eine wundersame Erkundung von Raum und Zeit begab.

 

Alternative Denkmöglichkeit: War Crushers Schwangerschaft wirklich so ungewollt?

Bislang haben wir uns mit Crushers Argumenten gegenüber Picard unter der Annahme auseinandergesetzt, dass sie ihm die Wahrheit sagt, wenn sie ihm berichtet, in jener denkwürdigen Nacht auf dem Planeten mit den schönen Wasserfällen ungewollt schwanger geworden zu sein. Doch was wäre, wenn es anders gelaufen wäre; wenn sie und Picard also nicht nur aus reinem Zufall Eltern geworden sind? Letzteres würde bedeuten, dass Crusher Picard bei ihrer Aussprache auf der Krankenstation der Titan anlügt oder ihm jedenfalls die volle Eröffnung der Dinge (noch) vorenthält. Auch wenn diese Denkmöglichkeit eher unwahrscheinlich erscheint: Da einiges an Crushers Einlassungen bemüht-konstruiert wirkt, bleibt immerhin ein Restzweifel, ob es womöglich ihre Absicht gewesen sein könnte, ein Kind von Picard zu bekommen. So kann man sich doch zu Recht fragen, weshalb im 25. Jahrhundert die tödlichsten Krankheiten geheilt werden können, es aber nicht möglich sein soll, zuverlässig zu verhüten.

Ich stelle einfach mal aufs Geratewohl in den Raum: Hat Crusher den Weggang ihres Sohnes Wesley vielleicht nicht ertragen? Wollte sie vielleicht insgeheim seit geraumer Zeit ein Kind mit Picard haben, stellte dann aber, nachdem sie schwanger geworden war, fest, dass dies aus den von ihr angeführten Gründen nicht möglich sein würde? Ein solches Vorgehen und der darauffolgende Bewusstseinswandel würde auf eine gewisse Irrationalität bei der einstmals so rationalen Beverly Crusher hindeuten. Andererseits wäre es zumindest vorstellbar, dass sich Crusher letztlich zu ihren Gefühlen für Picard bekannte, dann jedoch realisierte, dass ihnen als Paar keine Fortüne beschieden war, geschweige denn in einer Familienkonstellation. Wir wissen nicht, wie genau ihre Aussprache auf Casparia verlaufen ist, aber der Umstand, dass sie trotz Beendigung ihrer Beziehung miteinander schliefen, bleibt in meinen Augen eine zwiespältige Sache.

 

Crusher weicht ihren Beschützerschwur auf – und scheitert auf ganzer Linie

Crushers zentrale Argumentationslinie, Picard das Wissen um seinen Sohn vorzuenthalten, bezieht sich auf die Gewährleistung von Jacks Sicherheit. Umso bemerkenswerter ist, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt den Grundsatz, ihren Sohn um jeden Preis von Gefahren für dessen Leben fernhalten zu wollen, immer stärker aufgegeben hat. So haben sich Crusher und Jack ab einem gewissen Zeitpunkt aus ihrem geordneten Leben ausgeklinkt, um in humanitärer Mission für die Mariposas tätig zu werden. Auch wenn beide zusammen blieben und aufeinander Acht gaben, hat sich Crusher damit auf ein erhöhtes Risiko eingelassen, dass Jack in den Systemen außerhalb der relativen Geborgenheit des Föderationsraums etwas zustoßen könnte. Im Laufe der dritten PICARD-Staffel erhalten wir verschiedene Eindrücke davon, wie herausfordernd und hart ihr Agieren mit der Eleos inmitten gesetzloser, verelendeter Systeme gewesen sein muss; die Vorstellung von Sicherheit kann mit Fortgang ihrer Einsätze nur noch eine Farce gewesen sein. Insofern fallen frappierende Widersprüche zwischen dem auf, was sie Picard über ihre Beweggründe darlegt und was ihr praktisches Handeln war. Nun mag es gut sein, dass das Engagement für die Mariposas letztlich gar nicht von Crusher selbst ausging, sondern auf Jacks Wunsch hin geschah. Er wirkt idealistisch genug, dass er seine Mutter zu einer solchen Betätigung überredet haben mag, und Crusher wiederum hat nach ihrem Weggang von der Enterprise gewiss eine ganze Weile ihr natürliches Bestreben unterdrückt, Lebewesen zu helfen.

Fest steht in jedem Fall, dass ab dem Zeitpunkt, wo Crusher und Jack sich in Gefahr begaben, das Schweigen gegenüber Picard nicht länger gerechtfertigt war – zumal dieser ja ab 2385 selbst nicht mehr Teil der Sternenflotte war. Crusher wird ihre damalige Haltung demnach immer mehr hinterfragt und überdacht haben. Dennoch änderte dies nichts daran, dass Picard weiterhin die Kenntnis um seinen Sohn vorenthalten wurde. 2401 führt Crusher vor ihm an, dass sie, als Jack älter war, diesem gesagt habe, wer sein Vater sei und wo er ihn finden könne. Jedoch habe sich Jack dazu entschieden, mit Picard nichts zu tun haben zu wollen.

Hatte ich nie eine Chance verdient? Hatte er nie eine Chance verdient, zu erfahren, wer ich bin?“ – „Als er alt genug war, habe ich ihm sofort gesagt, wer Du bist und wo er Dich finden kann. Ich habe ihn ermutigt, sich mit Dir zu treffen. Er hat sich dazu entschieden, Dich nicht zu treffen.“ (Jean-Luc Picard und Beverly Crusher PIC in 3×03)

Als Vadics Formwandler-Splittergruppe ab Spätsommer 2401 Jagd auf sie beide zu machen beginnt, müssen sie ihre humanitäre Mission mit der Eleos immer weiter zurückfahren, bis sie schließlich nur noch mit Flucht und Verstecken beschäftigt sind. Dabei sehen wir, wie verbissen und kompromisslos Crusher ihren Sohn Jack protegiert. Mehr noch: Wir erleben eine Frau, die in zunehmendem Maße zum Schutz ihres Kindes sehr wohl bereit ist, ihre Moral in einschneidender Weise zu kompromittieren (PIC 3×07). Allerdings muss Crusher sich 2401 einer bitteren Einsicht stellen: All die Entscheidungen und Schritte, die sie unter Zahlung eines hohen persönlichen Preises ergriff, um Jack zu schützen, haben am langen Ende ins Nichts geführt. Sie ist mit dem Ziel, ihn in Sicherheit zu wiegen, fundamental gescheitert. Schlimmer noch: Wie sich noch herausstellen wird, wird Jack geradewegs im Zentrum einer ultimativen Bedrohung landen.

Ich habe Wesley Raum gegeben und ihn dadurch verloren. Deshalb habe ich Jack stärker behütet. So sehr, dass mir nicht mehr auffiel, was mir hätte auffallen müssen.“ (Beverly Crusher in PIC 3×09)

So bleibt ihr, als sie mit dem Rücken zur Wand steht, nichts anderes übrig, als ausgerechnet jenen Mann zu kontaktieren, von dem sie sich zwei Jahrzehnte unbedingt ferngehalten hatte. Es ist dabei nicht ohne Ironie, dass Crusher vermutet, dass es bei Vadics Jagd nicht nur um Jack geht, sondern irgendwie auch sein Vater damit in Zusammenhang stehen mag.

 

Crushers und Picards Wiedersehen verläuft nicht ganz einfach. © 2020-23 CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

 

Die Aussprache im Jahr 2401: Ein Lose-lose-Szenario für alle Beteiligten

Die schwerwiegende Konfrontation, die sich in der dritten Folge von Season drei zwischen Crusher und Picard nach 20 Jahren abspielt, ist sicherlich eines der Highlights zwischenmenschlicher Beziehungen in der Serie. Auch wenn Crushers Begründungen, Picards Sohn vor ihm geheimzuhalten, nur zum Teil überzeugen bzw. Überprüfungen standhalten und Fragen offen lassen, regt diese vielschichtige und schauspielerisch eindrücklich umgesetzte Szene zum Nachdenken an. Denn aus subjektiver Perspektive lässt sich sowohl die Haltung Crushers als auch jene Picards nachzuvollziehen. Bei beiden sind sachliche Argumente ebenso wie starke Gefühle im Spiel. So fühlt sich das, was sich auf der Titan-Krankenstation entlädt, wie ein echtes Charakterdrama an, denn es ist für alle Beteiligten eine tragische Situation: für Crusher, Picard und Jack.

Picards Reaktion auf die Eröffnung seiner Vaterschaft zeugt von einer persönlichen Erschütterung. Da läuft in seinem Innern ein schemenhafter Film mit ungewissem Ausgang ab, was gewesen wäre, hätte ihn Crusher von vorneherein ins Vertrauen gezogen. Ein wenig muss es auch wie eine Déjà-vu-Situation für ihn sein, war er doch in TNG schon einmal mit der Möglichkeit konfrontiert, einen lange verschwiegenen Sohn zu besitzen (TNG 7×22). Auch wenn es kaum vorstellbar scheint, dass Picard der Sternenflotte ausgerechnet in den Jahren einer galaktischen Katastrophe kolossalen Ausmaßes den Rücken gekehrt hätte, um sich voll und ganz seinem Familienidyll zu widmen, lässt Picard die Frage nach dem Was-wäre-gewesen-wenn nicht mehr los. Er hat selbst nach seinem tiefen Fall im Anschluss an die gescheiterte Rettungsmission eine schwere Zeit im Leben durchstehen müssen, die ihm viel von seiner Selbstachtung gekostet hat. Was hätte eine Familie mit Picard in dieser Situation machen, wie hätte sie ihn wieder aufrichten und beflügeln können? Dies zu beantworten ist schwer möglich.

Beverly, Du hast an meiner statt die Entscheidung getroffen. Du kannst jemanden nicht einfach verurteilen, bevor er die Tat begangen hat! […] Was hätte sein können, wenn ich es gewusst hätte? Was hätte ich sein können? Ein Vater? Ein Ehemann? Ich weiß jetzt mit Sicherheit, dass ich nie wie mein Vater gewesen wäre. Aber das hätte ich auch schon vor…20 Jahren erfahren können.“ (Jean-Luc Picard in PIC 3×03)

Trotz ihrer langen Trennung wird während der intensiven Szenen ihrer Wiederbegegnung schnell deutlich, wie eng verbunden Crusher und Picard nach wie vor sind, wie gut sie einander einschätzen können. Es birgt daher eine besondere Tragik, dass gerade angesichts der Liebe und Freundschaft, die beide so lange füreinander empfinden, eine derart zerrüttete und schwierige Situation geschaffen worden ist, nicht zuletzt auch für ihren Sohn. Beverly Crusher mag daher auf ihren langen, beschwerlichen Weg seit ihrer Entscheidung, die Enterprise zu verlassen, zurückblicken und sich fragen: War dieser Weg wirklich alternativlos? Was hätte sein können, wenn sie beide sich einfach nur zueinander bekannt hätten?

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