Steckbrief
Vorangegangene Serie(n): TNG (Season 1 – 7); DS9 (1 Episode)
Filme: Star Trek VII – X
Auftauchen in PICARD: Staffel 1 – 3
Spezies: Mensch
Geboren: 2305, La Barre, Frankreich, Erde
Eltern: Yvette Picard; Maurice Picard
Rolle in PICARD: ehemaliger Captain der U.S.S. Stargazer (2333 – 2355) sowie der U.S.S. Enterprise-D/-E (2364 – 2371; 2372 – 2381); ehemaliger Leiter der Sternenflotten-Rettungsmission und Kommandant der U.S.S. Verity (2381 – 2385); nun Admiral a.D. (2385 – 2401); Kanzler der Sternenflotten-Akademie (2400 – 2401)
Kind(er): Jack Crusher
Schauspieler: Patrick Stewart
Spätestens mit dem Anbruch der 1990er Jahre hatte ein gewisser Mann Spuren im Star Trek-Franchise und weit darüber hinaus hinterlassen; er wurde zu einem Teil der weltweiten Popkultur. TNG – die bis dato mit Abstand erfolgreichste Star Trek-Serie – sollte für immer untrennbar mit seinem Namen verbunden bleiben. Die Rede ist von einem kahlköpfigen, kultivierten Captain mit französischem Namen und (auffallend) britischem Akzent, der für sein Leben gern Earl Grey trinkt und den Bannerträger von Gene Roddenberrys optimistischem Zukunftsentwurf verkörpert. Der feinsinnige und umfassend gebildete Jean-Luc Picard stand für die berühmte „weiter entwickelte Sensibilität“ einer nun geeinten menschlichen Gesellschaft. Im Gespräch mit dem Androiden Data dachte er nicht bloß über das Wesen des Menschseins nach; nein, er war jederzeit bereit, tatkräftig zu demonstrieren, was es bedeutet, auch in kritischen oder existenziellen Momenten zu Humanismus und moralischen Grundfesten zu stehen.
Doch nach dem letzten TNG-Kinofilm, Nemesis (2002), war Schluss. Eigentlich hatte Schauspieler Patrick Stewart lange Jahre ausgeschlossen, jemals wieder in seine Rolle als Captain Picard zurückzukehren. Er hatte nicht für alle Zeit und ausschließlich auf diese Figur festgelegt sein wollen. Der Charakter und seine Abenteuer, so Stewart in verschiedenen Interviews, seien auserzählt worden. Hinzu kam, dass mit dem Fortgang der Zeit die Vorstellung einer in Frieden und Idealismus geeinten Menschheit angesichts diverser politischer Krisenerscheinungen in immer weitere Ferne zu rücken schien, und Stewart hatte sich frühzeitig als ausdrücklicher Gegner des Brexits und von Donald Trumps neoisolationistischer Politik hervorgetan.
Dann kamen die Dinge bekanntlich doch noch anders. Als Alex Kurtzman im Sommer 2018, mehr als anderthalb Jahrzehnte nach Nemesis, zum Verblüffen vieler Fans die Serie PICARD ankündigte, wussten wir, dass es sich – analog zur in der Realität vergangenen Zeit – um eine Fortschreibung des Universums aus TNG/DS9/VOY handeln und wir einem deutlich gealterten Jean-Luc Picard wieder begegnen würden. Wir waren folglich alle gespannt, wie das Leben des vermutlich größten Idols der Sternenflotten-Geschichte in der Zwischenzeit verlaufen ist. Und welchen weiteren Weg und welche Entwicklungen die neue Show für ihn bereithalten würde. Dabei zeichnete sich frühzeitig ab, dass die Serie keine schlichte Fortsetzung von TNG sein sollte, sondern sich anschickte, das All, die stets so heile Föderation und das Bild des legendären Kommandanten bewusst anders zu betrachten. Ganz im Sinne von Stewarts Wunsch, nicht an der Vorlage zu kleben, sollte PICARD nicht auf alten Pfaden wandeln, vielmehr sollte die Serie neue ausloten und beherzt beschreiten. Tatsächlich wurde sie in Ton und Inhalt eine völlig andere Veranstaltung als das überlebensgroße TV-Vorbild aus dem letzten Jahrhundert.
Nun, da alle drei Staffeln von PICARD uns vorliegen, wollen wir zurückblicken: Welchen Jean-Luc Picard hat uns die Serie, die seinen Namen trägt, gezeigt? Wie hat sich Picard verändert und warum? Es ist an der Zeit, das Ganze einmal aufzuarbeiten und in Ruhe darüber nachzusinnen.
– Teil 1: Gestern –
Was machte Jean-Luc Picard nach Nemesis?
Zunächst verblieb Picard weiter an Bord der Enterprise-E. Diese wurde nach dem dramatischen Kampf gegen Shinzon wieder instandgesetzt und ging auf neue Missionen. Allerdings brachten die Ereignisse von Nemesis mehrere tiefgreifende Einschnitte mit sich: Data hatte zum Schutz seiner Freunde das eigene Leben geopfert – ein Verlust, unter dem Picard noch sehr lange leiden würde –, und William Riker und Deanna Troi wechselten auf die Titan, wo Picards langjährige Nummer Eins nun selbst das Kommando übernahm. Nach allem, was wir wissen, blieben Beverly Crusher, Geordi La Forge und Worf Teil von Picards Besatzung. Im Frühsommer 2381 wurde Picard dann vom Sternenflotten-Oberbefehlshaber Admiral Victor Bordson zur Erde zurückbeordert, um ihn in seiner Funktion als Flaggschiff-Kommandant über eine anstehende Katastrophe galaktischen Ausmaßes in Kenntnis zu setzen: In wenigen Jahren würde sich das Zentralgestirn des Romulanischen Sternenimperiums in eine bislang nicht gekannte Supernova verwandeln. Damit waren nicht nur die Zwillingswelten Romulus und Remus dem Untergang geweiht, sondern auch zahlreiche andere Welten und Protektorate des eigentlich so mächtigen romulanischen Reichs starrten geradewegs in einen Abgrund. Denn die Supernova würde auch auf Planeten, die sie nicht unmittelbar zerstörte, klimatische Bedingungen irreparabel zugrunde richten und angestammte Versorgungslinien abreißen lassen. Aus diesem Grund mussten diese akut gefährdeten und äußerst dicht besiedelten Gebiete in der Herzkammer des romulanischen Raums so schnell wie möglich evakuiert und die dort lebenden Romulaner auf andere Planeten umgesiedelt werden.
Trotz großer Vorbehalte hatten Prätor und Senat erkennen müssen, dass ihnen angesichts der rasch progressiven Destabilisierungsrate des Sterns und der enormen Zahl von umzusiedelnden Bürgern nichts anderes übrig blieb, als um die Hilfe des alten Erzfeindes, der Föderation, zu ersuchen. Dabei war früh absehbar, dass der gewaltige Ressourcenhunger, welcher mit einer Evakuierungsmission dieses Ausmaßes einhergehen würde, erhebliche Auswirkungen auf die Kernmission der Sternenflotte hätte. Das bedeutete weit mehr als dass ehrgeizige Forschungsmissionen vorerst vom Tisch sein würden. Auch die Ingenieure und Wissenschaftler der Raumflotte würden ihre eigentlichen Projekte auf viele Jahre vertagen müssen. Um innerhalb der pluralen Föderationsgesellschaft – in der viele nach wie vor ausgeprägte Vorurteile gegen die Romulaner hegten – die nötige politische Akzeptanz für eine solche Mission zu schaffen, würden massive Kraftanstrengungen vonnöten sein. Es war fraglich, wie weit die Bereitschaft zur Unterstützung der Romulaner in den politischen Hallen des Sternenbundes gehen würde.
„Diese Mission – sie ist riesig, beispiellos. […] Es könnte die Sternenflotte eine ganze Generation lang beschäftigen. […] Sind wir bereit, Opfer zu bringen, um etwas in diesem Maßstab auf die Beine zu stellen? All die geplanten Forschungsmissionen? […] Gibt es überhaupt genug Schiffe, die dafür umfunktioniert werden können? Was wird sonst noch gekürzt werden müssen? Kultivierung von Grenzwelten? Terraforming-Projekte? Was denken Sie, wie das bei den Bürgern der Föderation ankommen wird?“ (Kirsten Clancy in Roman I)
Am Ende der ausgedehnten Einsatzbesprechung erklärte sich Picard bereit, die herkulische Aufgabe zu übernehmen, die präzedenzlose Evakuierungsmission zu leiten. Daraufhin stellte die Föderation sich darauf ein, drastische Maßnahmen zur Unterstützung der Romulaner auf den Weg zu bringen.
Warum übernahm Picard die Leitung der Sternenflotten-Rettungsmission?
Glaubt man dem Roman Die letzte und einzige Hoffnung, tat er es nur bedingt proaktiv. In einem leidenschaftlichen Plädoyer argumentierte Picard im Sinne einer breit angelegten Rettungsoperation und dass die Föderation ohne Wenn und Aber für ihre humanitären Grundsätze einstehen müsse, was Eindruck bei der Admiralität und den politisch Verantwortlichen hinterließ. Dann nahm das Oberkommando ihn in die Pflicht – das Ganze hatte sich offenbar wie eine persönliche Bewerbungsrede angehört. Picard wusste von vorneherein um seine Verantwortung, und er machte das Beste aus der Situation. Nach kurzem Nachdenken willigte er ein und erklärte sich auf Bitten des Oberkommandos bereit, das Kommando über die Enterprise kurzfristig abzutreten (Ersatz war mit seinem XO Commander Worf zum Glück schnell gefunden) und sich zum Admiral befördern zu lassen. Picard war entschlossen, so viele Leben wie möglich zu retten; dem ordnete er von nun an alles andere unter. Kurz darauf begann er, den Oberbefehl über ein beispielloses Aufgebot an Mann und Material zu übernehmen und traf die logistischen und politischen Vorbereitungen für ein Anlaufen der Evakuierungsmission. In diesem Zuge erhielt er ein neues Schiff, die U.S.S. Verity, einen gewaltigen Kreuzer der neuen Odyssey-Klasse, welche die Evakuierungsflotte von zunächst nicht mehr als zwei Dutzend Schiffen anführte. Zu seinem neuen Ersten Offizier machte Picard die langjährige Geheimdienstmitarbeiterin Lieutenant Commander Raffaela Musiker, die er erst bei der Besprechung mit Bordson kennengelernt hatte.
„Hier spricht Admiral Jean-Luc Picard. Ich spreche zu Ihnen vom Raumschiff Verity. Zusammengenommen umfasst unsere gesammelte Erfahrung viele hundert Jahre, tausende Welten und hunderttausende Missionen. Heute begeben wir uns auf die bislang größte Mission der Sternenflotte. Die ehrlichste, tiefst empfundene und notwendigste aller Aufgaben. Um Jahrhunderte des Zweifels, der Angst und des Misstrauens beiseitezuschieben und unseren Nachbarn in ihrer Stunde der Not die bedingungslose Hand der Freundschaft zu reichen.“ (Jean-Luc Picard in Roman I)
„Zum Glück hat die Föderation dann beschlossen, die Rettungsmaßnahmen zu unterstützen. […] Nun, ich war wohl schon immer recht überzeugend. Und der Föderation war klar, dass unzählige Millionen von Leben auf dem Spiel standen.“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×01)
Was wissen wir über den Verlauf der Rettungsmission?
Während die Romulaner aufgrund von Sicherheitsbedenken und Paranoia der Föderation untersagten, Hilfeleistungen im Zentralsystem beizusteuern, wurde der Planetenallianz gestattet, im föderationswärts vorgelagerten Gebiet des imperialen Hoheitsraums die Evakuierung von insgesamt 900 Millionen Personen zu übernehmen. Die Sternenflotte willigte ein, in der ihr zugewiesenen Zone tätig zu werden und arbeitete konkrete Pläne aus. Einer der ersten Schritte Admiral Picards bestand darin, im Zusammengehen mit Föderationspolitik und Oberkommando eine Umschichtung von Ressourcen und Finanzmitteln vorzunehmen. Wie erwartet, wurde die Mission der Sternenflotte infolgedessen beeinträchtigt und zahlreichen Forschungs- und Entwicklungsprojekten im gesamten Föderationsraum die Förderung entzogen. Stattdessen wurden insbesondere die Utopia Planitia-Flottenwerften mit dem sukzessiven Bau einer nie dagewesenen Rettungsarmada von bis zu 10.000 Schiffen der Wallenberg-Klasse betraut, die in der Lage waren, eine vollständige Umsiedlung und nötigenfalls auch Rekolonisierung durchzuführen. Ein schwerwiegendes Problem war allerdings, dass es auf konventionellem Weg mehr als ein Jahrzehnt brauchen würde, all diese Schiffe zu konstruieren. Mithilfe von Commander Geordi La Forge, den Picard bat, bis auf weiteres das Kommando auf Utopia Planitia zu übernehmen, fand man eine (ethisch-moralisch nicht ganz saubere) Möglichkeit, den Bau der Wallenberg-Flotte mutmaßlich innerhalb weniger Jahre zu realisieren: Die gewaltige Transportflotte sollte mithilfe bioneuraler, nicht-empfindungs- und urteilsfähiger Androiden, welche kurzfristig vom Daystrom-Institut – namentlich Dr. Bruce Maddox und dessen Team – entwickelt wurden (Daystrom-A500-Androiden), konstruiert und administriert werden.
Die Androidenlösung kam auf keinen Fall zu früh: Schon sehr bald stellte sich heraus, wie dramatisch die Notlage rund um den romulanischen Zentralstern wirklich war. Die Astrophysikerin am Astronomie-Institut von Cambridge, Dr. Amal Safadi, ermittelte, dass die Destabilisierung des romulanischen Sterns in immer erschreckenderem Ausmaß voranschritt, sodass sich die ursprünglichen Berechnungen rasch als Makulatur erwiesen. Die romulanische Sonne würde erheblich schneller als allgemein erwartet zur Supernova werden und aufgrund einer noch stärkeren Detonationswelle weitere Welten im imperialen Gebiet mit in den Untergang reißen – darunter auch solche, die bereits als Evakuierungsstandorte ausgewählt worden waren. Folglich bedeuteten diese Neuigkeiten einen größeren Bedarf an Schiffen in noch kürzerer Zeit und eine Verknappung von Ersatzwelten im romulanischen Gebiet. Doch während die Föderation auf diese neue Erkenntnis reagierte, versuchte die romulanische Führung die Wahrheit zunächst zu vertuschen, um ihr Gesicht zu wahren – selbst wenn dies auf Kosten der eigenen Bevölkerung gehen würde.
Diese konzentrischen Kreise, dachte Picard, während sie Safadis neues Modell begutachteten, sie schienen sich jedes Mal, wenn er sie ansah, weiter auszubreiten. Jede neue Welle brachte eine Vielzahl von Auswirkungen mit sich – soziale, politische, kulturelle und natürlich die Konsequenzen, die es auf die benötigten Ressourcen haben würde. Mehr betroffene Welten – von denen einige sogar für die Neuansiedlung eingeplant waren –, mehr betroffene Personen. Das bedeutete mehr Schiffe. (Roman I)
Ungeachtet dieses katastrophalen Szenarios schritt zwischen 2381 und 2384 die Evakuierungsmission der Föderation in romulanischem Raum voran. Picard und sein Team unternahmen zahlreiche Anstrengungen, um mit den ihnen bis dahin zur Verfügung stehenden Schiffen so viele Personen wie möglich aus dem Einflussbereich der Supernova zu schaffen. So konnten eine Reihe von Kolonien wie Ectis II oder Inxtis mit einigem Aufwand erfolgreich evakuiert werden. Doch im Zuge der Umsiedlungsbemühungen kam es immer wieder zu problematischen Zwischenfällen, bei denen permanent die Gefahr einer Verstrickung der Sternenflotte in innerromulanische Angelegenheiten bestand. Picard merkte schnell, auf welch schmalem Grat zwischen seinen humanitären Werten und dem Prinzip der Nichteinmischung in eine autarke, höchst xenophobe Gesellschaft er wandelte. Praktisch von Beginn seiner Langzeitmission an wurde er bei verschiedenen Gelegenheiten Ziel von terroristischen Attacken, die teilweise aus dem Widerwillen und dem Hass radikaler Fraktionen im romulanischen Reich erwuchsen, teilweise aber auch das Ergebnis von Kollateralschäden des Rettungseinsatzes waren. Als Beverly Crusher im Jahr 2401 auf diese turbulente Zeit zurückblickt, nennt sie einige Beispiele für Übergriffe und Anschlagsversuche auf Picard, darunter seine mehrtägige Entführung durch Flüchtlinge von Kalara V, die wegen der Umsiedlung von Romulanern in ihre Umgebung wütend geworden waren, aber auch Attacken remanischer Attentäter im Dontra-Sektor auf die Verity sowie einen Anschlag mittels einer Photonengranate bei Picards Verhandlungen mit dem romulanischen Prätor (PIC 3×03).
Angesichts widriger Umstände und des hohen Zeitdrucks sah Picard sich schließlich sogar gezwungen, romulanische Flüchtlinge durch die Neutrale Zone zu bringen und auf peripheren Föderationswelten wie Vashti oder Torrassa anzusiedeln, was teilweise Widerstand bei den indigenen Bevölkerungen sowie benachbarten VFP-Welten hervorrief, auch wenn sich die lokale Regierung auf Vashti zunächst bereit erklärte, ein Integrationsprojekt und eine Willkommenskultur zu etablieren. Zudem wurde Picard immer wieder mit dem Vorwurf der romulanischen Regierung konfrontiert, Kulturimperialismus zu betreiben, das romulanische Volk verwirren und in alle Winde zerstreuen zu wollen. Auf Seiten der Föderation entstand hingegen vermehrt der Eindruck, die Romulaner seien undankbar. Eine nicht unbeträchtliche Hilfe für Picard und sein Team war ein Orden der Qowat Milat, spirituelle romulanische Kriegernonnen mit eigener, alternativer Weltanschauung (siehe Kapitel 15), die seit jeher in Opposition zum Tal Shiar stehen. Sie halfen nicht nur bei der Evakuierung und Ansiedlung zahlreicher Romulaner auf Vashti, sondern sicherten auch deren Versorgung und Schutz ab. Picard entwickelte v.a. zur Oberin Zani und einem von ihrer Gruppe aufgenommenen Waisenkind namens Elnor ein enges Vertrauensverhältnis. In den kommenden Jahren würde er Vashti bei mehreren Gelegenheiten besuchen, wobei er sich einen Überblick über das voranschreitende Integrationsprojekt verschaffte, dessen Gelingen nach seiner Überzeugung für die öffentliche Akzeptanz der Rettungsmission eine wichtige Rolle spielte (PIC 1×04). Picard ging so weit, das Vashti-Projekt, Zani, Elnor und die Qowat Milat als seinen „Fels in der Brandung“ zu bezeichnen.
Wann und wie endete die Rettungsmission?
Entgegen Picards energischen Bemühungen, das Engagement der Sternenflotte aufrechtzuerhalten und kontinuierlich an die humanitäre Verantwortung zu erinnern, konnte er nicht verhindern, dass die Rettungsmission innerhalb der Föderation zunehmend an Rückhalt verlor. Ehrgeizige Politiker aus den kleineren Grenzwelten nutzten geschickt die Lage, um Zweifel und Missgunst an Picards Evakuierungsbemühungen reifen zu lassen. An ihrer Spitze stand Olivia Quest, anfangs Juniorratsmitglied der kleinen VFP-Welt Estelen im Föderationsrat. Quest monierte, dass innerhalb der Föderation ein Machtkartell der „Großen Vier“ (Erde, Vulkan, Andoria, Tellar) bestehe und diese den kleineren, entlang der Neutralen Zone gelegenen Mitgliedswelten massive politische und ökonomische Einschnitte aufzwängen, um romulanische Leben zu retten. Im Laufe der Zeit wurde Quest sogar zur Wortführerin einer regelrechten innerföderalen Opposition von insgesamt 14 Welten, drohte unverhohlen mit einer Sezession und machte in der Öffentlichkeit gegen die Rettungsmission mobil (PIC 1×02).
„Ist das jetzt die offizielle Politik? Werden alle Welten entlang der Grenze gebeten, romulanische Siedler aufzunehmen? Wird der Punkt kommen, an dem wir dazu genötigt werden? Natürlich fühlen wir mit diesen Leuten in Not, doch man wird wohl noch die Frage stellen dürfen, ob dies wirklich die beste Lösung ist. Die Destabilisierung der Grenze. Eine Flut von Flüchtlingen. Kontrollverlust und Entmündigung unserer Welten.“ (Olivia Quest in Roman I)
Unter diesen schwierigen Gesamtbedingungen ging die mühsame Arbeit von Picard und seinem Team weiter. Die Evakuierung der dicht besiedelten Welt Vejuro in einem der Nachbarsysteme von Romulus stellte eine besonders große Herausforderung für die Umsiedlungsanstrengungen dar. Indes zeigte sich bereits Anfang 2385, dass die Apokalypse der romulanischen Zentralwelten begonnen hatte. Rückwirkend würde dieses Jahr als Startpunkt der eigentlichen Supernova datiert werden. Die Korona des Sterns begann sich erheblich auszudehnen, weil die Quantenaktivitäten endgültig in sich zusammenfielen. Dadurch kam es auf Romulus und anderen Welten zu massiven klimatischen Veränderungen, in deren Folge Teile der Landmasse binnen kurzer Zeit unbewohnbar wurden (u.a. Tsunamis, Dürren, Erdbeben). Monat für Monat wurden die Umweltschwierigkeiten größer, und die Energie- und Versorgungsinfrastruktur begann zu versagen. Doch während die Zeit drängte, führten die politischen Widerstände auf der Erde und das immer wieder aufbrechende Misstrauen der romulanischen Regierung zu einer Verlangsamung der Umsiedlungsanstrengungen.
Im Frühjahr 2385, vier Jahre nach Beginn der Evakuierungsmission, stand Utopia Planitia davor, eine gigantische, nie dagewesen große Wallenberg-Rettungsflotte fertigzustellen, die in den romulanischen Raum entsandt werden sollte. Dazu kam es jedoch nicht mehr, da vorher ein Desaster seinen Lauf nahm, das später als das „Unvorstellbare“ bezeichnet werden sollte: Am 5. April 2385 ereignete sich bei den Arbeitsandroiden eine ominöse Fehlfunktion, in deren Folge sie das Verteidigungsnetzwerk des Mars infiltrierten und fast sämtliche Werftanlagen und die gesamte Rettungsflotte vernichteten. Fast 100.000 Sternenflotten-Ingenieure und Zivilisten fanden im Inferno im Orbit wie auf der Oberfläche den Tod, vom verheerenden Verlust der militärischen und Industrieinfrastruktur ganz zu schweigen. Die gewaltigen Explosionen entzündeten toxische Dämpfe in der Stratosphäre. Teile der Mars-Atmosphäre würden selbst noch anderthalb Jahrzehnte nach dem Ereignis brennen. Der Föderation fehlten nun nicht nur die Ressourcen, sondern es war zudem aufgrund der Vernichtung der wichtigsten Werftanlagen eine prekäre Sicherheitslage entstanden (ST Children of Mars; PIC 1×01; 1×02).
Die Mars-Katastrophe war gewissermaßen der letzte Schwall Wasser, der das Fass der Verwerfungen innerhalb der VFP zum Überlaufen brachte – es kam zu einer überstürzten Reaktion, in deren Folge der Föderationsrat zum einen mit sofortiger Wirkung jegliche Entwicklung und Nutzung von Androiden untersagte (die entsprechende Abteilung im Daystrom-Institut in Okinawa wurde bis auf rein theoretische Forschung stillgelegt). Zum anderen brach die seit ehedem wackelige Unterstützung für die Evakuierungsmission endgültig in sich zusammen. Die Sternenflotte musste ihre Bemühungen im romulanischen Raum mit sofortiger Wirkung einstellen. Zwar erklärte sich die Föderation bereit, den Romulanern eine Reihe von Industriereplikatoren zu überlassen, doch abgesehen davon war das Sternenimperium nun auf sich gestellt.
Picard versuchte in einer letzten Anhörung im Sternenflotten-Hauptquartier, diese Entscheidung abzuwenden und alternative Lösungen aufzuzeigen, wie trotz der vernichteten Rettungsflotte auf niedrigerem Level Hilfsoperationen fortgesetzt werden konnten, doch weder Sternenflotten-Oberkommando noch Föderationspolitik waren hierzu noch bereit. Man berief sich auf die einschneidenden Folgen der Mars-Katastrophe und darauf, bereits eine Menge für die Romulaner getan zu haben. Letztlich setzte Picard alles auf eine Karte und drohte, aus Protest seinen Dienst zu quittieren. Ein Stück weit war es als Bluff gedacht gewesen, als letzte Verteidigungslinie. Als Admiral Bordson entgegen seiner Erwartung die Kündigung annahm, zog Picard sich – zutiefst erschüttert über die Institution, der er mehr als 60 Jahre lang die Treue gehalten hatte – zurück.
„Ich bin für die Föderation eingetreten. Dafür, was Sie repräsentiert. Was Sie immer noch repräsentieren sollte.“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×02)
Warum gab Picard letztlich auf und zog sich zurück?
Weshalb hat Picard nach dem Zusammenbruch der Sternenflotten-Hilfsmission schlicht kapituliert? Immerhin wäre es doch möglich gewesen, auch nach einem Abschied von der Raumflotte, in freilich deutlich geringerer Größenordnung, eine zivile Rettungsinitiative zu beleben. Vor dem Hintergrund seiner reichhaltigen Erfahrungen im All verfügte ein Mann wie Picard zum damaligen Zeitpunkt zweifelsohne über verschiedenste Kontakte zu hochrangigen Vertretern anderer Völker, Mächte und potenter Fraktionen. Wäre eine solche Anstrengung, den Romulanern außerhalb der Möglichkeiten der Sternenflotte weiter Unterstützung zu gewähren (z.B. durch Mobilisierung von medizinischen Hilfsorganisationen und anderen Freiwilligen), auch auf kleiner Flamme gekocht worden, hätten zumindest einige Leben gerettet werden können. Doch Picard schien in jenem Moment, als er nach seinem Austritt aus dem Dienst das Hauptquartier verließ, in einen Ganz-oder-gar-nicht-Modus verfallen zu sein. Er schickte sich an, auf einen Schlag Abschied zu nehmen von allem, was sein Leben so lange bestimmt hatte. Seine XO, Raffaela Musiker, die bis zum Schluss über Alternativoptionen nachdachte, die Rettungsmission irgendwie fortzusetzen, stieß er damit brutalstmöglich vor den Kopf (zumal der Abgang des Admirals auch für Musiker bedeutete, ihre Karriere nicht mehr weiterführen zu können). Picard wandte sich mit einem Mal ab, ging und blickte nicht mehr zurück. Sieht ihm ein solches Verhalten ähnlich?
Ich denke, die Antwort auf diese Frage ist, wenn man von TNG ausgeht, ein klares ‚Nein‘. Allerdings lässt sich die extrem ausgedehnte, ungemein beschwerliche Rettungsmission in romulanischem Raum nicht einmal ansatzweise mit einer anderen Mission vergleichen, der Picard sich im Laufe seiner Karriere verschrieben hat. Was er im Kinofilm Der Aufstand tat, um die Zwangsumsiedlung der Ba’ku durch Sternenflotte und Son’a zu verhindern, war dagegen geradezu ein Kurzstreckenlauf. All die Jahre hatte er unermüdlich für die Rettung möglichst vieler Leben gearbeitet und sich dabei zweifellos physisch wie seelisch verausgabt. Er musste gegen zahllose Widerstände sowohl auf Föderations- als auch romulanischer Seite angehen und andauernd neue Hürden meistern, seine Operation am Laufen zu halten, ja sogar aufgrund der schieren Notwendigkeiten gegen beständigen Druck auszuweiten. Etappenerfolge taten Not, und manchmal blieben sie aus oder verkehrten sich ins Gegenteil, weil die Evakuierung bestimmter Welten anders verlief als gedacht. Picard war wie Don Quijote, der allenthalben gegen Windmühlen ankämpfen musste – dies verlangte irgendwann seinen Tribut. In der Rückblende von Episode PIC 1×03 sehen wir den Endpunkt dieser Entwicklung: einen Mann, der letztlich so ausgezehrt war vom unablässigen Mobilisieren seiner Reserven, seiner Kreativität, seines strategischen Denkens und seines Idealismus, dass er schlichtweg keine Kraft mehr zum Weitermachen hatte. Vielleicht tat sein inzwischen fortgeschrittenes Alter sein Übriges, vielleicht stand ihm auch sein Ego im Weg, das ist möglich. Doch das Zentrum des Ganzen war eine schwere innere Erschöpfung, gepaart mit tiefer Frustration und Verbitterung über das Handeln von Föderation und Sternenflotte, was ihn zusätzlich paralysierte, denn Picard war stets die Sternenflotte gewesen. Wir dürfen nicht vergessen, dass er dieser Institution sein Leben gewidmet hat. Er hatte sich mit keiner anderen Mission so sehr identifiziert, und vermutlich entsprach keine Mission seinem Weltbild so sehr wie das gewaltige Rettungsunterfangen im Angesicht der romulanischen Supernova.
Bedenken wir auch: Jean-Luc Picard, wie wir ihn in TNG kannten, war ein Captain, der ins Gelingen verliebt gewesen war. Selbst die aussichtslosesten Szenarien waren während der abwechslungsreichen Abenteuer der Enterprise-D von ihm und seiner Besatzung gemeistert worden, selbiges gilt für die Kinofilme. Doch jetzt erlebte Picard in einem sehr umfassenden Sinne – und gerade bei einer Mission, die Folgen für die elementare Ordnung in der Galaxis hatte – seine Grenzen und sein urpersönliches Scheitern. Hinzu kommt, dass Picard vor dem Oberkommando in einem letzten Versuch des Aufbäumens hoch gepokert hatte, indem er mit seinem Rücktritt drohte. Hiermit hatte er alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Als Admiral Bordson entgegen seiner Hoffnungen die Kündigung akzeptierte, gab es keinen Weg mehr zurück. Das ‚Spiel‘ war für Picard beendet, auch wenn er dieses nie hat beenden wollen. Man denke in diesem Zusammenhang daran, was er in der allersten Szene von Episode eins zum imaginierten Data sagt („Ich will nicht, dass das Spiel endet“; kurz darauf beobachtet er in dieser Traumsequenz, wie der Mars explodiert).
Apropos Data: Das Leiden darüber, Data verloren zu haben, hatte Picard zu keiner Zeit verlassen, steckte fortan wie ein Messer in seiner Seite. Seit jenem denkwürdigen Tag an Bord der Scimitar plagten ihn Schuldgefühle, weil er den Tod seines Freundes nicht hatte verhindern können (X: Nemesis; PIC 1×10). Es ist anzunehmen, dass dies im Stillen beständig an seinen Kräften gezehrt und über die Jahre sein Seelenleben verdunkelt hat. Der Augenblick, als die Föderation ein umfassendes Verbot allen synthetischen Lebens ins Werk setzte – letztlich ein indirektes Ergebnis von Picards Mission, ohne die es die ‚Synths‘ nie gegeben hätte –, erzeugte in ihm womöglich das Gefühl, Data nachträglich mit Füßen getreten, ja sein Erbe verraten zu haben. In jedem Fall würde ihn Data über die Jahre seines vorzeitigen Ruhestands nun umso mehr weiter beschäftigen. In der Stille seines ruhiggestellten Daseins würde Picard keine Möglichkeit mehr haben, den Geistern der Vergangenheit aus dem Weg zu gehen.
„Ich habe schöne Träume. Es ist das Aufwachen, das mir zunehmend schwerfällt.“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×01)
„Wie ungerecht die Zeit doch ist. So viele Falten, so viele Enttäuschungen.“ (Q in PIC 2×01)
Das alles bedeutet nicht, dass Picards totale Aufgabe richtig gewesen wäre; sie ist aber menschlich und von daher nachvollziehbar. Der Mann, der stets für jedes noch so große Problem eine Lösung gefunden hatte, konnte auf einmal nicht mehr weiter, wollte nicht mehr, sank in sich zusammen. Das hatte zur Folge, dass Picard an verschiedenen Fronten Kollateralschäden verursachte. Sowohl in der Wahrnehmung seiner Vertrauenspersonen (er hatte Raffaela Musiker und Elnor, denen er sich eigentlich verpflichtet hatte, fallenlassen) als auch in der öffentlichen Rezeption büßte Picard aufgrund seiner Resignation einiges von seinem Heldenimage ein. So muss er sich selbst anderthalb Jahrzehnte später nicht nur von Musiker schwere persönliche Vorwürfe gefallen lassen (PIC 1×03), sondern auch Admiral Clancy bringt ihre Verachtung über sein damaliges Handeln unverhohlen zum Ausdruck.
„Damals hatten wir nicht genügend Schiffe. Wir mussten eine Wahl treffen. Aber dem großen Picard gefielen die Befehle nicht. […] Tun Sie, was Sie am besten können: Gehen Sie nachhause.“ (Kirsten Clancy in PIC 1×02)
Vom ehemaligen romulanischen Senator Tenqem Andrev, dem er als wütender Schatten seiner selbst auf Vashti begegnet, ganz zu schweigen (PIC 1×04). Aus Sicht vieler Romulaner ist Picard als jemand abgetreten, der seine Versprechungen nicht eingehalten und damit Leid und Tod verursacht hat, sodass Vorurteile der Föderation gegenüber wieder genährt worden sind. Aus Sicht der Sternenflotte wiederum ist Picard als sturer, stolzer Mann gegangen, der die Befehle und die Realität der Lage nicht akzeptieren konnte. Am Ende konnte er es niemandem Recht machen. Er hätte alles gewinnen können, scheint jedoch im Moment seiner Kündigung alles verloren zu haben. Nicht zuletzt seine eigene Identität, seine Zukunft, sein Vermächtnis.
„Wir haben uns zurückgezogen. Die Galaxis hat getrauert und ihre Toten bestattet. Und die Sternenflotte stiehlt sich aus der Verantwortung! Die Entscheidung, die Rettung abzubrechen und Jene im Stich zu lassen, die zu retten wir geschworen hatten, war nicht nur unehrenhaft, sondern schlicht und ergreifend kriminell! Und ich war nicht bereit, untätig dabei zuzusehen!“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×01)
Wieso wählte Picard das Château für seinen Rückzug?
Weil so viele Brücken hinter ihm plötzlich verbrannt waren, gab es für Picard nur noch die Perspektive, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und in eine Art innere Immigration zu flüchten. Der Ort, für den er sich entschied, war kein Planet in der Ferne, auf dem er archäologische Ausgrabungen durchführte und die Hinterlassenschaften vergangener Zivilisationen studierte (ein Hobby, das ihm immer sehr wichtig gewesen ist, wie wir aus diversen TNG-Folgen wissen). Nein, er wählte als Rückzugsort das Château Picard, jahrhundertealter Sitz seiner Familie im heimelig-idyllischen La Barre. Auf dem gediegenen französischen Weingut würde der Admiral a.D. die nächsten anderthalb Jahrzehnte nahezu durchgehend zubringen.
Die Frage drängt sich geradezu auf: Wieso hat er ausgerechnet das Château für seinen neuen Lebensabschnitt gewählt? Ist das überhaupt nahe liegend? Aus verschiedenen Szenen in TNG wissen wir, dass Picard seit jeher mit seiner traditionsbewussten Familie haderte; das Verhältnis war kein einfaches. Der junge Jean-Luc war niemand, dem Brauchtum oder die Orientierung an seinen Winzerahnen viel bedeuteten; vielmehr liebte er Jules Verne und andere fantastische Autoren, schaute nachts hinauf zu den Sternen und träumte von neuen Welten (TNG 4×02; X: Nemesis). Sein Vater Maurice war ein konservativer, gelegentlich grober und dem technologischen Fortschritt gegenüber misstrauischer Mann, der mit seinem feinsinnigen, begabten Sohn und dessen reicher innerer Welt wenig anfangen konnte (TNG 6×15). Hinzu kommt der Selbstmord von Picards Mutter und Maurices Gattin Yvette, der fortan zwischen beiden stand (PIC 2×07; 2×09). Robert, Jean-Lucs großer und zuweilen tyrannischer Bruder, kam ganz nach ihrem Vater; er bevorzugte ein bürgerliches, bodenständiges Leben und übernahm letztlich die Weinplantage (TNG 4×02; 7×22). Dass Jean-Luc La Barre verließ, um an die Akademie der Sternenflotte zu gehen, hatte Robert Jean-Luc in einer Mischung aus Unverständnis und Neid stets nachgetragen. Für ihn war sein kleiner Bruder so etwas wie ein Beschmutzer oder wenigstens Geringschätzer der Familie Picard, ihrer Geschichte und Traditionen. Dies würde noch jahrzehntelang so bleiben. Anfang 2367, in der Episode Familienbegegnung, suchte Picard nach seiner traumatischen Assimilationserfahrung durch die Borg nach längerer Zeit wieder La Barre auf und war bei Robert, dessen Frau Marie und seinem Neffen René zu Gast. In diesen Tagen näherten sich Picard und Robert erstmals nach langer Zeit ein Stück an, indem sie sich aussprachen, doch die Gräben konnten gewiss nie ganz zugeschüttet werden.
„Mein eigener Vater und ich, wir hatten uns entfremdet. Er wollte, dass ich mich zuhause um die Weinberge kümmere. Ich aber wollte zur Sternenflotte. Und dann ist er gestorben, bevor wir uns wieder versöhnen konnten. Das habe ich mein Leben lang bedauert.“ (Jean-Luc Picard in TNG 7×22)
Picard schien in den nächsten Jahren seinen Frieden damit gemacht zu haben, dass er nie so sein würde wie Robert und sein Vater; vielmehr sah er sich in der Tradition entfernter Vorfahren, die Entdecker gewesen waren (X: Nemesis). Mit der Zeit wurde ihm das Verhältnis zu seinem Stammbaum jedoch wichtiger. So erleichterte ihn der Gedanke, dass Robert als Statthalter der Weinplantage die Familiengeschichte fortführte und diese mit seinem Neffen René (mit dem Picard gewisse Gemeinsamkeiten wahrnahm) eines Tages in die nächste Generation gehen würde. Dadurch war es für Picard in Ordnung, dass er selbst keine Kinder in die Welt gesetzt hatte, was aufgrund seines unsteten Lebens als Sternenflotten-Captain ohnehin schwer realisierbar war. Doch als Robert und René 2371 bei einem schweren Brand ums Leben kamen, brach diese Vorstellungswelt für ihn schlagartig zusammen (VII: Treffen der Generationen). Schwer getroffen, musste Picard erkennen, dass er der Letzte seiner Familie war und es vermutlich „keine Picards mehr geben [wird]“. Was im Anschluss geschah, wissen wir nicht, denn die übrigen Kinofilme gingen nicht weiter auf Picards Familienbezug ein. Doch auch in PIC 2×01, Dekaden später, bezeichnet er sich noch als „der letzte Picard“ (freilich bevor ein gewisser Jack Crusher in sein Leben treten wird).
Gehen wir an den Anfang der neuen Serie: Als wir anno 2399 den einstigen Admiral auf seinem Weingut sehen, scheint sich vieles verändert zu haben. Dies gilt zunächst für das andersartige Erscheinungsbild des Châteaus. Möglicherweise brannte das jahrhundertealte Anwesen der Picards bei Roberts und Renés Unglück nieder und musste neu errichtet werden. Augenscheinlich hat Picard die einstige Rolle seines Bruders eingenommen und steht nun dem Château vor. Von Marie, Roberts Witwe, findet sich keine Spur mehr. Wenn wir dies bedenken, stellt sich die Frage, wie freiwillig Picards Entschluss überhaupt war, das Weingut zu beziehen und es auch wirtschaftlich fortzuführen. Womöglich hat es Marie eines Tages nicht mehr übers Herz gebracht, an diesem Ort zu leben und ist weggegangen, sodass bei Picard ein Gefühl der Verpflichtung entstand, in die Bresche zu springen. Vor dem Hintergrund des abrupten Endes seiner Karriere und des Verlustes von Bruder und Neffe mag bei ihm der Wunsch gereift sein, wieder näher an das Erbe seiner Familie heranzurücken, trotz aller Verwundungen der Vergangenheit. Es mag auch eine Folge des Alters sein, dem nachgesagt wird, dass man im Geiste wieder an den Anfang zurückkehrt. Andererseits prägt Picard seiner Ära als ‚Oberhaupt‘ des Weinguts durchaus den eigenen Stempel auf. Das gilt für die sichtlich veränderte Einrichtung, die vielen persönlichen Gegenstände aus seiner Zeit bei der Sternenflotte, ebenso wie für die Aufnahme der beiden Romulaner Laris und Zhaban. Diese leisten ihm beständig Gesellschaft, sorgen für sein leibliches und seelisches Wohl, geben ihm durch Übernahme verschiedenster Aufgaben im Haushalt und bei der Weinlese Struktur und Anleitung. Und natürlich bringen die beiden ehemaligen, von Yuyat Beta stammenden Tal Shiar-Agenten eine Prise interstellare Exotik in das konservative Flair des Weinguts. (Tatsächlich erfahren wir im Prequel-Comic Star Trek: PICARD – Countdown, dass beide selbst Erfahrung im Anbau romulanischen Weins haben). Auf diese Weise wird das Château dann doch noch zu Picards Alterssitz und zu einer Art Refugium auf den zweiten Blick, an das er sich nach und nach gewöhnt. Und doch hat Picard ein gewisses Befremden, hier auf seine alten Tage angelandet zu sein, nie abgelegt. So bleibt das Château Picard für ihn – den beinahe gebrochenen Mann – am Ende eine Art goldener Käfig, ein Notunterschlupf.
„Ich habe mein Bestes getan, damit dies der Ort wird, an den ich gehöre. Aber ich habe mich hier trotz allem doch nie richtig zuhause gefühlt.“ – „Sie haben immer mit einem Auge zu den Sternen geschielt.“ (Jean-Luc Picard und Laris in PIC 1×03)
Was machte Picard in den Jahren seines Rückzugs?
Nach dem zu schließen, was uns die drei PICARD-Staffeln zeigen, hat Jean-Luc Picard all die Jahre ein ernsthaftes Bemühen gezeigt, den Weinbetrieb weiter erfolgreich fortzuführen und damit der Familientradition Genüge zu tun. Er hat im Zuge dessen eine besondere Wertschätzung für das rustikal-romantische Landleben und natürlich auch den Genuss von gutem Wein gewonnen, wie eine Reihe von Szenen unter Beweis stellen (z.B. als er mit Laris in PIC 1×03 nachts vor der Tür steht und vom „vertrauten Geruch der Weinlesezeit“ schwärmt oder auch in PIC 2×01, als er, ebenfalls mit Laris, sichtlich zufrieden auf die erfolgreiche Ernte anstößt). Neben dem Management des Betriebs, bei dem ihm Laris und Zhaban seither zur Seite stehen, hat Picard sich dem Studium der Geschichte verschrieben. Im Laufe von beinahe anderthalb Dekaden sind mehrere historische Abhandlungen und Bücher entstanden, vermutlich mit einem Schwerpunkt auf die Zeit des 20. Jahrhunderts und den Zweiten Weltkrieg (hierüber gibt einerseits Picards Dünkirchen-Analogie während des Interviews in PIC 1×01 Auskunft, andererseits auch einige der begleitenden Romane zur Serie). Während ausgedehnter Spaziergänge mit seinem treuen Begleiter, dem Pitbull namens Nummer Eins, kann er seine Gedanken ordnen und zugleich sein weites, stilles Land inspizieren. Einiges deutet darauf hin, dass Picard – der in englischer Sprache erzogen wurde – in der Zwischenzeit auch an seinem Französisch gearbeitet hat.
Es stellt sich die Frage, wie isoliert Picard nach seinem Rückzug ins Private tatsächlich gewesen ist. In Staffel eins wirkt es so, als habe er den Kontakt mit der Außenwelt nahezu vollständig abgebrochen. Doch Staffel zwei und drei belegen, dass Picard mitnichten die ganze Zeit über ausschließlich auf seinem Weingut zubrachte. So hatte er ab und an Kontakt mit William Riker und Deanna Troi (worauf u.a. in PIC 1×07 hingewiesen wird) und besuchte immer wieder Guinans Bar in Los Angeles. Gerade das Etablissement der El-Aurianerin wurde so wichtig für ihn, dass er später auch seinem Sohn Jack erzählen wird, dieser Ort sei von großer persönlicher Bedeutung für ihn (PIC 3×04). Bei seinen Aufenthalten unterhielt er sich mit seiner langjährigen Freundin Guinan über Dinge, die ihm durch den Kopf gehen, und genoss Speisen, exotische Getränke und Musik. Gelegentlich erkannten ihn Kadetten der Sternenflotte und Jungoffiziere und löcherten ihn dann mit allerhand Fragen nach seinen früheren Missionen. Obwohl Picard eigentlich mit der Sternenflotte abgeschlossen hatte, kam es vor, dass er diese Augenblicke sogar genoss, weil er im geschützten Raum der Bar nicht nur aus seinem Leben berichten konnte, sondern auch das Gefühl hatte, den angehenden Offizieren etwas Wichtiges mitgeben zu können. In der Gesamtschau ist Picard also nicht vollkommen isoliert gewesen, doch seine Kontakte mit der Welt jenseits seines Kokons waren sehr fein dosiert, und der Normalfall blieb das selbst gewählte Exil in der französischen Provinz.
„All diese Jahre habe ich hier gehockt, die Wunden meiner verletzten Ehre geleckt und Bücher über Geschichte geschrieben, an die niemand sich erinnern möchte.“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×01)
– Teil 2: Heute, Morgen –
Warum bricht Picard wieder auf?
Wie bereits angeschnitten: Der Schmerz und die Schuldgefühle, Datas Tod nicht verhindert haben zu können, beschäftigten Picard über die Jahre seiner Zeit auf dem Familienweingut unablässig weiter, bewusst wie unbewusst. In seinen Träumen und Gedanken ist der verlorene Android nahezu omnipräsent. Eines Tages wird er von der von Fremden verfolgten und am Boden zerstörten Dahj Asha aufgesucht, die nach eigener Auskunft eine Art inneren Drang verspürte, in seine Obhut zu fliehen. Sie erklärt ihm, was ihr in ihrem Appartement in Greater Boston widerfahren ist, und er verspricht, zu helfen. Picard wird stutzig, da das Gesicht der jungen Frau ihm seltsam bekannt vorkommt; er weiß jedoch nicht, woher. Daraufhin beschließt er, in seinem persönlichen Archiv im Sternenflotten-Hauptquartier Nachforschungen anzustellen. Nach und nach entspinnt sich, dass es sich bei Dahj in Wahrheit um eine Androidin modernen Typs handelt, die offenbar von niemand anderem als dem seit langem vermissten Bruce Maddox mittels einer neuen kybernetischen Methode (fraktales neuronales Klonen) nach der Vorlage Datas geschaffen wurde. Infolgedessen scheinen bestimmte, eher intuitive Teile von Datas Bewusstsein in der jungen Frau weiterzuleben. Mehr noch: Picard erkennt, dass Dahj genauso aussieht wie eine Frau, die Data einst an Bord der Enterprise-D gemalt hatte. Das Gemälde hatte er rätselhaft mit dem Titel ‚Tochter‘ überschrieben. Data als eine Art Prophet seiner eigenen Evolution als Lebensform? Dahj wird in der Folge von Agenten des Zhat Vash (ein fanatischer romulanischer Geheimbund) getötet, doch Picard erfährt, dass sie aufgrund des neuronalen Klonens in Paaren eine Zwillingsschwester hat, die – ähnlich wie zunächst Dahj vor ihrer ‚Aktivierung‘ – wohl noch nichts von ihrer wahren Identität weiß (PIC 1×01). Sogleich ist er wild entschlossen, diese Frau – Soji Asha – zu suchen, das Rätsel um Datas Nachkommen zu lüften und die offensichtliche romulanische Verschwörung, die hier am Werke ist, aufzudecken.
„Sie war ein Android. […] Sie ist hierher gekommen, weil sie Schutz gesucht hat, so wie Sie und Zhaban. So wie ich. Sie hätte mehr von mir erwarten dürfen. Ich schulde es ihr, herauszufinden, wer sie getötet hat und wieso.“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×01)
Es ist unverkennbar, dass Picards initiale Motivation, das Weingut zu verlassen und das Ziel seiner persönlichen Mission zu erreichen, unmittelbar mit seiner Verbindung zum vor zwei Jahrzehnten verstorbenen Data zusammenhängt. Indem er Dahjs Zwillingsschwester sucht, sie beschützt und die Hintergründe der neu geschaffenen Androiden ergründet, hat er das Gefühl, in gewisser Weise Wiedergutmachung gegenüber seinem alten Freund zu betreiben. Picard ist bereit, sich wieder einzumischen und eine gefährliche Reise von ungewissem Ausgang auf sich zu nehmen, obwohl er bereits das nahende Ende vor Augen hat. Dr. Benayoun, sein früherer Kollege von der Stargazer, lässt ihn nach einer Untersuchung wissen, dass die chronische Erkrankung, welche er seit Jahren mit sich herumträgt – mutmaßlich das Irumodische Syndrom – in nicht allzu ferner Zukunft zu seinem Tod führen werde. Umso mehr ist Picard willens, die letzten Wochen, die ihm bleiben, Datas Gedenken zu widmen.
„Sie wollen wirklich wieder zurück in die Kälte, Jean-Luc? Wissentlich?“ – „Mehr als je zuvor. Wissentlich.“ (Moritz Benayoun und Jean-Luc Picard in PIC 1×02)
„Bevor Ihre Schwester zu mir gekommen ist, wurde ich von meiner Vergangenheit verfolgt, habe vor mich hingelebt und Zeit verschwendet. Aber jetzt bin ich hellwach und habe eine Mission.“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×07)
Als Dahj ihn nach ihrer ersten Begegnung – so als könne sie in sein Inneres blicken – fragt, ob er sich je wie ein Fremder vorgekommen sei, erwidert Picard nachdenklich und bedeutungsschwer: „Bereits viele Male“. Die Aussicht, ein Teil von Data zu finden, zu behüten und Zeit mit ihm zu verbringen, erlöst ihn von dem Gefühl der Fremdheit, das sich über sein Leben gelegt und das er nie vollends abgeschüttelt hat. Datas Vermächtnis nachzugehen, hält inneren Frieden für Jean-Luc Picard bereit. An Bord des Kaplan-F17-Speedfrachters La Sirena versammelt er eine neue, eher unorthodoxe Besatzung und stürzt sich in das Abenteuer, wie es Staffel eins erzählt. Am Ende des langen, beschwerlichen Wegs wird schließlich Erfüllung auf ihn warten. Letztlich wird Picard sogar Datas Bewusstsein in einer Quantenrekonstruktionsmatrix unverhofft wieder begegnen und so die Möglichkeit bekommen, ihm das zu sagen, was er ihm immer hatte sagen wollen.
„Sie erinnern sich nicht an Ihren Tod, und ich kann ihn nicht vergessen.“ (Jean-Luc Picard in PIC 1×10)
Picard kann endlich aussprechen, was ihn so lange belastete; er kann sein Bedauern, seine Trauer und seine Empfindungen gegenüber Data in Worte fassen und somit ein Kapitel zum Abschluss bringen, das ihn bis zu diesem Tag bis in seine Träume verfolgt hat. Erst jetzt kann er die Geister der Vergangenheit – buchstäblich – zur Ruhe bringen. Picard begreift die Weisheit hinter der Bitte von Datas Bewusstsein, sterben zu wollen: Man muss sterben können, um das Leben mit all dem Schönen, das es ausmacht, wirklich wertschätzen zu können – und in dieser Erkenntnis aufzublühen. Und so entspricht Picard diesem Wunsch: Er schaltet die Simulation ab und macht seinen alten Freund (der anders als in Nemesis diesmal sehr bewusst loslassen kann) mit dieser Tat ganz.
Das dritte Leben
Picard, der am Ende der Auftaktseason im Sterben liegt, ist seinerseits bereit, Abschied zu nehmen. Er hatte sein nahendes Ende klar vor Augen und sich damit abgefunden. Aber jemand anderes trifft für ihn die Entscheidung, dass es noch nicht so weit ist. Dadurch wird die Wiederbegegnung mit Data unter neuen Vorzeichen für Picard zu noch mehr: nämlich zum Ausgangspunkt für eine Wiedererweckung. In einer bekannten TNG-Folge (5×25) hat er bereits ein zweites Leben binnen Minuten durchlebt – am Ende der ersten Staffel wird ihm unvermittelt ein weiteres Leben geschenkt. Kurz vor seinem physischen Tod aufgrund der Folgen seiner vermeintlichen Erkrankung überträgt auf der Coppelius-Station Dr. Altan Inigo Soong, bislang unbekannter Sohn von Noonien Soong, mit Unterstützung von Dr. Agnes Jurati per Mentaltransfer Picards Geist und all seine Erinnerungen in einen experimentellen Golem-Körper, den ersten und bislang einzigen seiner Art. Soong hat ihn eigentlich für sich selbst geschaffen, sich dann aber in einem Akt der Mildtätigkeit entschlossen, ihn Picard zu spenden (PIC 1×10; 3×06).
„Bevor Ihre Gehirnfunktionen versagten, konnten Dr. Soong und Jurati mit der Hilfe von Soji ein vollständiges, komplett identisches Abbild Ihres neuronalen Substrates erzeugen und übertragen.“ (Data in PIC 1×10)
Ein Golem ist eine Art fortschrittlicher Android, der aus organischem Material hergestellt und so konzipiert ist, dass er mehr oder weniger identisch mit der Lebensform funktioniert, der er nachempfunden ist, einschließlich der Prozesse des Alter(n)s und des Todes. Diese Prozedur des Mentaltransfers ist neuartig. Man kann vermuten, dass Soong auf dem Verfahren aufsetzte, das sein Vater bereits bei Juliana O’Donnell angewandt hatte, um die Erinnerungen seiner sterbenden Gattin auf die ihr nachempfundene Androidin zu übertragen, welche er letztlich Juliana Tainer nannte (TNG 7×10). Wie sich herausstellt, gelingt es erfolgreich, Picards Persönlichkeit und Erinnerungen in den Golem zu transferieren. Soong und Jurati lassen ihn wissen, dass sein Körper keine besonderen Fähigkeiten oder Anschlussmöglichkeiten hat, auch altert und eines Tages aufgrund eines zellulären Homeostase-Algorithmus sterben wird. Die einzige Verbesserung, die der Golem Picard verschafft, bezieht sich auf das Fehlen des Hirndefekts, welcher für seinen Tod verantwortlich gewesen ist. In jeder anderen Hinsicht ist der biosynthetische Körper praktisch identisch mit seinem menschlichen. Soong hat es ethisch für nicht vertretbar gehalten, Picard etwas anderes zu geben als sein Leben ohne seine Erkrankung zu Ende führen zu können.
„Mir war klar, dass Sie sich nicht auf etwas Neues einstellen wollen. Nicht nach 94 Jahren im selben Körper und mit demselben Gesicht. Dennoch ist alles neu und voll funktionsfähig.“ (Altan Soong in PIC 1×10)
By the way: In PIC 3×10 wird sich Picard – vor den Augen der Borg-Königin – mit dem Borg-Hive verbinden können, ohne sogleich assimiliert zu werden. Es bleibt offen, ob dies auf den Golem-Körper zurückzuführen ist oder andere Ursachen hat. Auf jeden Fall ist es Soong gelungen, Picards altes Selbst im „künstlichen Fleisch“ (Vadic) nahezu perfekt zu überführen – bis hin zu seiner besonderen Verbindung mit den Borg, die erkennbar bestehen bleibt.
Zurück zum Ende von Staffel eins: Umgeben von alten und neuen Freunden, kehrt Picard mit der La Sirena nach einigen Wochen zurück zur Erde. Da im Zuge seines Abenteuers die Hintergründe der Mars-Katastrophe von 2385 als Manipulations- und Verschwörungswerk des Zhat Vash entlarvt werden konnten, wird der Bann für synthetisches Leben in der Föderation aufgehoben – ein Umstand, der für den Golem Picard nun auch von zentraler persönlicher Bedeutung ist, obwohl es im weiteren Verlauf der Serie gewisse Andeutungen gibt, dass die Wahrheit um Picards neue biosynthetische Hülle kein Allgemeinwissen in der Föderationsöffentlichkeit werden wird.
„Da Androiden jetzt nicht mehr verboten sind, kann ich mich frei bewegen.“ – „Genau wie ich.“ (Soji Asha und Jean-Luc Picard in PIC 1×10)
Nun, da die Belastungen der Vergangenheit nicht mehr ganz so schwer wiegen, nähert sich Picard wieder mit der Sternenflotte an. Im Laufe des Jahres 2400 nimmt er ein Angebot an, als Kanzler der Sternenflotten-Akademie zu fungieren. Zwar handelt es sich um eine repräsentative Tätigkeit, bei der er in erster Linie angehende Offiziere anleitet, doch obwohl Picard Admiral a.D. bleibt, besteht theoretisch die Möglichkeit, seine Befehlsgewalt per admiraler Anweisung wiederherzustellen, sollte sie benötigt werden (PIC 2×01; 2×10; 3×02). Diese Wiedereinkehr in Picards alten Hafen erscheint vor dem Hintergrund seines fundamentalen und anderthalb Jahrzehnte währenden Entsetzens über die Sternenflotte doch ziemlich weitreichend. Gut, man kann einwenden, dass mit der Aufhebung des Androidenverbots und der Verleihung eines Schutzstatus für Coppelius eine gewisse Wiedergutmachung seitens der Föderation eingesetzt hat. Dennoch bleiben die schweren Versäumnisse, die damals zur Einstellung der Rettungsmission und zur Inkaufnahme zahlloser Toter im Zuge der Supernova führten. Es wäre daher hilfreich gewesen, z.B. im Rahmen einer Rückblende zu sehen, welche Motive für Picard und die Sternenflotte ausschlaggebend gewesen sind, sich wieder aufeinander zuzubewegen. Wir können davon ausgehen, dass eine Art Aussprache stattgefunden hat (womöglich mit Admiral Clancy persönlich?). Zweifellos ist das Oberkommando durch die Aufdeckung der romulanischen Verschwörung und Picards heroischem Eintreten für die Rechte künstlichen Lebens zu einer Neubewertung der Gesamtlage gekommen. Vieles von dem, was Picard Clancy in PIC 1×02 vortrug, hat sich bewahrheitet. Ich halte es für gut vorstellbar, dass Picard – ohne alles beiseite zu wischen, was in der Vergangenheit vorgefallen ist – zur Einsicht kam, dass es besser ist, wieder Teil des ‚Spiels‘ zu werden, um in gewissen Grenzen Einfluss nehmen zu können, als weiterhin an der Seitenlinie zu stehen. Womöglich hat auch Laris ihm ins Gewissen geredet, sodass sich der Pensionär einen Ruck gab und wieder seinem alten Arbeitgeber zuwandte.
„Ich würde gerne hier bleiben. Aber jetzt brechen gefährliche Zeiten für die Föderation an. Ich darf sie nicht Leuten überlassen, die eine Bedrohung sind für alles, was ich mein Leben lang verteidigt habe. Ich muss wieder zurück, wenn auch nur, um die Aktivitäten des Föderationsrats ein wenig zu beruhigen.“ (Jean-Luc Picard in IX: Der Aufstand)
Etwas mehr als ein Jahr, nachdem ihm sein neues Leben geschenkt worden ist, wird Picard dann vor eine neue Bewährungsprobe gestellt. Das allmächtige Wesen Q meldet sich nach Jahren der Abstinenz zurück und zieht ihn in eine Prüfung hinein, die Picard an der Seite der alten La Sirena-Crew durch Raum und Zeit schließlich in das Jahr 2024 auf der Erde führt. Auch dieses Abenteuer soll Picard etwas Neues und Wesentliches über sich beibringen. Eine wichtige Erkenntnis dabei ist, dass er nun viel mehr in der Gegenwart ankommt und bereit ist, den Rest seines Lebens zu genießen. Was für ein Wiederaufstieg eines Mannes, der nach Dahjs Tod noch wähnte, er habe auf seinem Château auf den Tod gewartet.
„Vom Zurückblicken habe ich vorerst genug. Ich möchte lieber nach vorn blicken.“ (Jean-Luc Picard in PIC 2×10)
Indes sollte Altan Soong bei der genaueren Autopsie von Picards sterblicher Hülle stutzig werden und die Theorie aufstellen, dass die Diagnose seines Irumodischen Syndroms lediglich das Symptom einer gänzlich anderen, potenziell gefährlichen Ursache gewesen sein könnte. Nach dem Tod des Kybernetikers würde der Sternenflotten-Geheimdienst auf Soongs Erkenntnisse aufmerksam werden und Picards konservierten Körper zur Daystrom-Station überstellen (PIC 3×06). Es würde sich jedoch erst einmal kein klarer Befund ergeben, was in Wahrheit zu Picards Tod geführt haben mag. Im Herbst 2401 wird dieses dunkle Rätsel mit einem Paukenschlag gelüftet werden – und prompt zum Schlüsselelement einer ungeahnten Bedrohung (PIC 3×09).
Inwiefern haben sich Picards Charakter und sein Handeln verändert?
Erinnern wir uns zunächst an die Person, als die uns Jean-Luc Picard in TNG gegenübergetreten ist. Wohl kein zweiter Star Trek-Captain steht so für den geläuterten Menschen (‚Advanced Human‘) von Gene Roddenberrys Utopie. Bei unzähligen Gelegenheiten demonstrierte er seine Qualitäten als vollendeter Moralist, Diplomat und Stratege und hielt damit die Fackel der Föderationsprinzipien hoch. Einige von Picards Ansprachen und Plädoyers hallen voller tugendhafter und rhetorischer Kraft durch unsere eigene Geschichte und sind im Hinblick auf ihre Prinzipienethik als zeitlos anzusehen (man denke etwa an eine Episode wie Das Standgericht). Picard erschien als ein Captain, der nicht bloß deshalb der Sternenflotte die Treue hielt, weil er um jeden Preis an die Befehlskette glaubte, sondern v.a., weil er von ihren Idealen überzeugt war. So war er in Extremsituationen auch bereit, entgegen der Marschroute seiner Vorgesetzten zu handeln und die Föderation daran zu erinnern, wofür sie steht (z.B. TNG 4×21; 5×03; 7×12; 6×26; 7×20; IX: Der Aufstand). Jean-Luc Picard war Verteidiger universeller Menschenrechte (wobei hier der Begriff ‚Mensch‘ selbstredend überholt ist), ein mit Warpgeschwindigkeit durchs All eilender Anwalt der Geschundenen und Benachteiligten, edelmütig, rechtschaffen und mit einem eigenen, unverbrüchlichen Wertekompass ausgestattet.
Zugleich war ein weiteres vorrangiges Markenzeichen von Picard seine ausgeprägte Kontrolle und Rationalität. Er, ein an und für sich introvertierter Mann, erlaubte sich normalerweise nicht, große Gefühlsregungen zu zeigen und Einblicke in sein Seelenleben zu gewähren, sieht man einmal von seiner traumatischen Borg-Erfahrung ab (TNG 4×02; VIII: Der Erste Kontakt). Dies ging so weit, dass der legendäre Botschafter Sarek seinen kühlen Verstand mittels Geistesverschmelzung nutzte, um eine vorübergehende Stabilisierung seines Bendii-Syndroms zu erreichen (TNG 3×23). Später sollte Sareks Sohn Spock Picard verblüfft vulkanisch-logische Qualitäten bescheinigen (TNG 5×08). Picard war stets um Unvoreingenommenheit bemüht, verschaffte sich ein eigenes Bild. Er versuchte eine Situation aus verschiedenen Blickwinkeln und möglichst objektiv zu betrachten. Dabei war er sich des Gewichts und der Bedeutung wichtiger Entscheidungen stets bewusst; die Frage von Verantwortung spielte für ihn eine zentrale Rolle (TNG 3×02; 3×07; 3×10; 4×26). Für ihn gab es prinzipiell keine per se aussichtslose Lage, denn er blieb nahezu immer professionell, konzentriert und optimistisch.
Diese Wesensmerkmale haben sich beim deutlich älteren, über 90-jährigen „JL“ Picard teils abgeschwächt, teils anderen Eigenschaften Platz gemacht. Seine ehemals so kontrollierte Fassade ist insgesamt merklich brüchiger geworden. Er verbirgt seine persönlichen Gefühle nicht mehr mit jener eisernen Selbstdisziplin, die er sich während seiner Zeit als Kommandant der Enterprise auferlegte. Ab und an neigt er zu Rührseligkeit oder sogar einem Anflug von Jähzorn. Das bedeutet nicht, dass der betagte Picard nicht mehr zu rationalen Kalkülen fähig wäre; gelegentlich weiß er durch brillante Kombinationsgabe und messerscharfe Schlussfolgerungen nach wie vor zu überraschen (PIC 2×04). Doch wird dies nun stärker begleitet und manchmal überlagert von seinen emotionalen Befindlichkeiten. Wie ist dieser Wandel zu erklären? Zum einen versteckt die neue Serie nicht, dass die Zeit nicht am damaligen Flaggschiff-Befehlshaber vorbeigegangen ist. Daran ändert auch der Golem überhaupt nichts. Picard befindet sich in einem fortgeschrittenen Alter, und die Tatsache, dass er zum Zeitpunkt von Staffel eins bereits seit 14 Jahren außer Dienst ist, hat seinen Charakter mitgeprägt. So hat er eine Menge Zeit und lebt im Wechsel der Jahreszeiten von La Barre, lässt sich nun ein Stück mehr gehen und manchmal treiben. Es sind aber auch ganz sicher die Folgen seiner einschneidenden Trennung von der Sternenflotte, die ihn von seinem früheren Ich ein gehöriges Stück entrückt haben. Wir wissen nicht, welche Phasen Picard nach seinem Abschied aus dem Dienst durchlebt hat, aber einiges deutet darauf hin, dass er immer wieder mit Scham und Selbstvorwürfen, depressiven Zuständen, tiefer Verbitterung und Melancholie konfrontiert war. Das Trauma seines damaligen Scheiterns hat sich ihm unverkennbar tief eingeschrieben. Er, dessen Leben eigentlich voll und ganz auf die Sternenflotte ausgerichtet gewesen war, hat plötzlich ein großes schwarzes Loch im Zentrum seiner Vita, verstärkt um den Verlust Datas, der stetig weiter an ihm nagte. Zugleich wurde und wird Picard womöglich umso schmerzlicher bewusst, was er alles nicht haben konnte, weil er sich aufgrund seiner Karriere in der Sternenflotte dagegen entschied: eine feste Beziehung, eine Familie? Solche Beschädigungen bleiben nicht ohne Folgen. Manchmal sehen wir – mögen es auch nur Blicke sein –, wie diese innere Traurigkeit, die zu Picards Begleiter geworden ist, wieder Überhand zu nehmen droht. Laris und Zhaban haben ihm offenbar geholfen, über die Jahre beschäftigt zu bleiben und nicht zu sehr dieser resignativen Seite an sich nachzugeben. Dennoch markiert sich Picard als jemanden, der inzwischen zu einem großen Teil in der Vergangenheit lebt und daraus sein Selbstverständnis zieht (PIC 3×01). Der gealterte Picard hat zwar nach wie vor ein „Faible für poetische Weisheit im Vorbeigehen“, wie Seven of Nine es auszudrücken pflegt (PIC 3×06) und bleibt ein Mann der Aufklärung und Bildung. Allerdings scheint ihm am konsequenten Leben und Durchsetzen abstrakter Ideale nicht mehr so viel zu liegen wie in früheren Tagen; manchmal ist er sogar zu überraschend harten Brüchen bereit. An die Stelle seiner ehemals so bestechenden Prinzipienethik und der Loyalität zur Sternenflotte sind deutlich stärker persönliche Beziehungen getreten sowie die Frage zwischenmenschlicher Bindung und Solidarität. Picard verhält sich möglicherweise so, weil er nicht verwunden hat, dass er sich von der Sternenflotte als Ganzes verraten und im Stich gelassen fühlte, und selbst nach seiner Rückkehr in ihre Reihen nach den Ereignissen von Staffel eins wird sein persönlicher Kompass sich diesbezüglich nicht mehr grundlegend ändern. Sein Glaube an große Institutionen und hehre Versprechungen hat spürbar gelitten.
Im Laufe der verschiedenen Episoden beobachten wir an Picard Verhaltensmuster, die früher höchst untypisch für ihn waren. Er sucht vermehrt Nähe und auch physischen Kontakt, ja teilt seine Gefühle mit. Der ‚neue‘ Picard möchte über Gefühle reden, und er tut es zuweilen ausschweifend oder gar ein wenig aufdringlich. War er früher distanziert und leicht unterkühlt, umarmt er nun alte Freunde wie Deanna Troi, William Riker oder Guinan geradezu offensiv (PIC 1×07; 2×01). Eine Folge seines offeneren Umgangs ist, dass er sich von seinen Empfindungen regelrecht mitreißen lässt, zuweilen euphorisch, zuweilen schwer betrübt bis weinerlich (was sich auch in seiner Mimik sichtlich niederschlägt). Er spricht mit Soji über seine innigsten Empfindungen in Bezug auf seinen verstorbenen androiden Freund (PIC 1×08), lässt sich von Musiker dazu bringen, seine Zuneigung ihr gegenüber auszudrücken (PIC 1×09), und er gesteht Datas Bewusstsein in der Abgeschiedenheit der Quantenrekonstruktionsmatrix nicht mehr und nicht weniger als seine „Liebe“ (PIC 1×10). Tallinn – eine romulanische Frau, die er im Grunde kaum kennt – breitet er das schwere Trauma seiner Kindheit vertrauensselig und emotional aus (PIC 2×09). Und am Ende von Staffel zwei nimmt er seinen langjährigen Widersacher, das vermeintlich todgeweihte omnipotente Wesen Q, liebevoll in den Arm, um sich von ihm zu verabschieden (PIC 2×10). Hat ein Q überhaupt ein Konzept für physische Gesten? Unwichtig, Picard tut es einfach. Wo er in jüngeren Tagen v.a. Sachprobleme sah, die er sezierte und unter Abwägung seiner Grundsätze und Befehle zu lösen suchte, nimmt der (re-)inkarnierte Picard das Menschlich-Verbindende wahr und versucht, darauf aufbauend, Lösungen zu finden. Wir sehen dies etwa bei seinen zuweilen kitschigen Bemühungen, Sojis Vertrauen zu gewinnen, indem er sich von der Verbindung zu Data auf sentimentale Weise leiten lässt („Achten Sie auf das Timbre meiner Stimme…“; PIC 1×07; 1×08). Auf einer ähnlich gefühligen Ebene versucht Picard in der veränderten Zeitlinie des Jahres 2024 das Vertrauen einer jungen Guinan zu gewinnen, die sich (zunächst) nicht an ihn erinnern kann (PIC 2×04). Der Höhepunkt dieser neuen Wesensart schlägt sich zweifellos in seinem Verhältnis zu Jack Crusher nieder, welcher sich als sein leiblicher Sohn entpuppt (PIC 3×09; 3×10). Höhepunkt ist hier Picards Geständnis vom „fehlende[n] Teil“ seiner selbst. Wir sehen: Der ‚neue‘ Picard setzt Zuneigung und Emotion ganz bewusst und gelegentlich auch von seiner eigenen Überschwänglichkeit übermannt als Instrument ein, um einen Effekt bei seinem Gegenüber zu erreichen.
Wo er bei vertrauten Personen derartig zuneigungsvolle Gesten an den Tag legt, offenbart der PICARD-Picard auch eine nicht minder leidenschaftliche Schattenseite. Personen, die nach enger Beziehung den Bruch mit ihm begangen haben, lässt er um seine Wut und Enttäuschung wissen und macht ihnen zuweilen äußerst harte, ja unerbittliche Vorwürfe. Dabei lässt er schon mal unter den Tisch fallen, dass die Umstände, die zu besagtem Bruch führten, komplexerer Natur waren als er sie im Rückblick wahrhaben will und auf einen schlichten Vertrauensbruch reduziert. Damit sieht sich v.a. Ro Laren konfrontiert, der er 2401 nach über drei Jahrzehnten wieder begegnet. Picard überzieht sie zunächst mit augenscheinlicher Verachtung, wenn er sagt: „Sie haben alles verraten, woran ich geglaubt habe“. Später lässt er sie sogar mit einer ordentlichen Portion Pathetik wissen: „Sie haben mir das Herz gebrochen!“ (PIC 3×05) Doch wie sich herausstellt, sprechen daraus mehr Hilflosigkeit und Schmerz über den damaligen Verlust ihrer Beziehung, die Folgen seiner eigenen langen Einsamkeit sowie ein gewisser Hang zu Überempfindlichkeit, denn genauso rasch verflüchtigt sich Picards Wutausbruch wieder, und er ist bereit, Ro zuzuhören und sie zu verstehen. Die schlagfertige Bajoranerin, die einst unter seinem Kommando stand und sich dann dem Maquis anschloss (TNG 7×24), tritt Picard mit offenem Visier entgegen. Sie macht ihm bewusst, dass er im Alter verdrängt, was er selbst einst hochhielt: „Blindes Vertrauen – egal in welche Institution – macht niemand ehrenwert.“ (PIC 3×05) Die Szene mit Ro illustriert eines sehr deutlich: Der moderne Jean-Luc Picard hat keinen richtigen Abstand mehr zu den Dingen, er nimmt vieles persönlich. Ein weiteres Beispiel für Picard, wie er sich ungeniert über seine Gefühle auslässt, ist ein Treffen mit Guinan im Zehn Vorne, während dem er ihren Rat einholt, inwiefern er eine ernsthafte, lang angelegte Beziehung mit Laris eingehen sollte (PIC 2×01). Einerseits spricht er jetzt über sein Inneres – was wir aus TNG so kaum bis gar nicht kannten –, doch hat er immer noch eine gewisse Scheu, sich dauerhaft zu binden (was mit dem in TNG nie erwähnten, da verdrängten Trauma seiner Kindheit in Zusammenhang gestellt wird; PIC 2×07; 2×09; 2×10). Früher ist er ständig mit der Enterprise weiter geflogen, und seine wenigen Beziehungen hatten keine realistische Chance, doch nun fehlt ihm die Ausrede, einer Liebesbeziehung aus dem Weg zu gehen. Picard teilt sich also emotional mit, weist aber immer noch gewisse Barrieren auf, unter denen er bereits früher litt. Augenscheinlich haben sich diese Bindungsbarrieren sogar verfestigt.
Sichtlich gelitten hat Picards Bereitschaft, nach Sternenflotten-Protokoll zu verfahren; auch ein strategisches Vorgehen liegt nicht mehr unbedingt bei ihm an der Tagesordnung. Zuweilen geht er die Dinge etwas improvisiert und kopflos an, was ebenfalls eine Folge seiner Seniorität sein kann, aber vermutlich hat er schlicht keine Lust mehr, sich für alles einen Masterplan zurechtzulegen. In diesem Kontext fällt sein leicht unbeholfenes, changierendes Agieren während des Aufenthalts auf der Erde im Jahr 2024 auf (Staffel zwei). Es ist ein Stück weit fraglich und spekulativ, womit dies zusammenhängt. Immerhin ist es ein von Q ersonnenes und entsprechend manipuliertes Szenario, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, wo veränderte Realität endet und Fiebertraum beginnt. Picard redet in PIC 2×03 noch auf Musiker, Rios und Seven ein, tunlichst nichts zu unternehmen, was den normalen Verlauf der Zeitlinie ändern könnte. Kurz darauf ist er selbst es, der zu nicht unerheblichen Teilen für potenziell problematische Verstrickungen mit Akteuren in dieser Zeit sorgt. Er beamt scheinbar unbekümmert mitten in die Fußgängerzone von Los Angeles (PIC 2×04); er offenbart sich sehr rasch und weitgehend der Wächterin Tallinn (PIC 2×05); auch gibt er sich dem FBI-Agenten Wells offen zu erkennen und riskiert damit, dass die gesamte Zeitlinie kontaminiert wird (PIC 2×08). Picards Versuch, die Borg-Königin wieder hochzufahren, indem er Agnes Jurati mit ihr verbindet, erscheint leichtsinnig, denn schnell zeigt sich, dass die Königin nach Jurati greift, ohne dass Picard außer Gut-Zureden einen Plan B hat (PIC 2×03). Entsprechend geht das Abenteuer in der Vergangenheit dann auch weiter: mit einer regelrecht amoklaufenden Jurati, die auf dem Weg ist, eine neue Königin zu werden. Am Ende lässt Picard sogar Cristóbal Rios auf dessen Wunsch in der Vergangenheit zurück und riskiert damit schwerwiegende Veränderungen der Geschichte (PIC 2×10). Ist dies alles Ergebnis seines Alters oder hat es auch etwas mit seinem gewandelten Charakter zu tun? Darauf gibt die Serie keine klaren Antworten; vieles bleibt eine Frage der Deutung. Auch die Art und Weise, mit der Picard zu Beginn der dritten Staffel auf Beverly Crushers Hilfsersuchen reagiert, lässt eine gewisse strategische Komponente vermissen (PIC 3×01). Tatsächlich schlägt er ihre Aufforderung, sich nicht an die Sternenflotte zu wenden, mehr oder weniger sogleich in den Wind, und er bringt durch ein ziemlich kühnes Vorgehen Captain Liam Shaw und die U.S.S. Titan-A, derer er sich bemächtigt, in schwieriges Fahrwasser. Man könnte es weiter zuspitzen: Die „List“, die Riker und er schmieden, um irgendwie mit der Titan ins Ryton-System zu gelangen, zeugt gelinde gesagt von leichtem Realitätsverlust. Picards jetzt stark aus dem Stegreif kommendes Vorgehen führt auch dazu, dass er ab und an persönliche Grenzen überschreitet. So unterstellt er William Riker, der das Kommando der Titan vorübergehend übernehmen musste, nach einer Meinungsverschiedenheit vor allen Führungsoffizieren, er würde in seinen Entscheidungen als Interims-Captain durch den Tod seines Sohnes Thaddeus kompromittiert sein (PIC 3×03). Dies kommt bei Riker verständlicherweise übergriffig, taktlos und kränkend herüber, auch wenn es in gewisser Weise unverhohlen ehrlich ist. Der Picard aus Enterprise-D-Zeiten hätte so etwas zumindest unter vier Augen getan und mehr das Sachproblem im Auge gehabt. Unschwer zu erkennen ist, dass der in die Jahre gekommene Picard zwar von der Aura vergangener Tage zehrt, aber längst kein natürlicher Anführer mehr ist. Er insistiert mit Gefühlen, seine Ansprachen sind gelegentlich mehr verzweifelt-bemüht als souverän. Nicht von ungefähr kommt es, dass Musiker ihm früher oder später eine „heftige und tiefe Enttäuschung über Ihre mangelnde Führung“ vorwirft (PIC 2×03). Sie sagt es im Zusammenhang mit seinem etwas leichtfertig geäußerten Vorschlag, die Borg-Königin wieder zu reaktivieren und weiter mit ihr zu kooperieren, aber auch mit Picards wenig überzeugender Investigation und Erläuterung, was Q im Sinn haben könnte, ist Musiker nicht ganz einverstanden.
Wir haben den Verlust seines Bruders und seines Neffen im Film Treffen der Generationen (2371) weiter oben angesprochen. Erst in der dritten PICARD-Season wird eröffnet, dass sich die Einstellung Picards zum Thema Familie und Vaterschaft im Laufe der Zeit offenbar schleichend verändert hat. So sehen wir eine Flashbackszene aus dem Jahr 2381, in der Picard im Angesicht der Geburt von Will Rikers Sohn so etwas wie leise Wehmut zu empfinden scheint (PIC 3×03). Dennoch scheint sich Picard zunächst höchst unwohl zu fühlen, als er im Jahr 2401 erstmals auf seinen Sohn trifft, von dem ihm Beverly Crusher nie etwas erzählt hat (PIC 3×02). Crusher selbst erinnert ihn bei ihrem Wiedersehen nach 20 Jahren daran, dass er ihr gesagt habe, er sehe sich selbst nicht als Vater, und nutzt diese Aussage als eines von mehreren Argumenten, weshalb sie ihm die Geburt seines Sohnes Jack vorenthalten hat (PIC 3×03). Im Laufe weniger Tage beherzigt Picard allerdings die Erkenntnis, wie stark sich sein Schicksal mit der Eröffnung seiner Vaterschaft geändert hat, und nimmt sich seines Sohnes an. Wie sich herausstellt, verbindet beide deutlich mehr als es zunächst den Anschein hat (siehe späterer Abschnitt in diesem Kapitel).
„Wollen Sie sich nicht langsam mal zur Ruhe setzen?“ – „Glauben Sie mir, ich versuche es. Aber ich musste feststellen, dass ein Nickerchen am Nachmittag und Puzzeln einfach nicht so mein Ding sind.“ (Jean-Luc Picard und Guinan in PIC 2×04)
Was hat es mit Picards Kindheitstrauma auf sich?
Zentraler Bestandteil von Season zwei ist eine fundamentale Zerlegung des Charakters von Jean-Luc Picard. Im Laufe der Geschichte muss er sich – weil Q dies so möchte – einem tiefsitzenden Kindheitstrauma stellen. Dieses war dermaßen stark, dass der einstmals sieben- oder achtjährige Junge Jean-Luc es aus seinem Bewusstsein verdrängte, wobei sein weiterer Lebensweg unmittelbar von ihm mitbestimmt wurde. So erfahren wir, dass Picards Mutter Yvette – zu der er stets ein liebevolles Verhältnis hatte – unter einer schwerwiegenden bipolaren Störung litt, bei der sich „Phasen zwischen schweren Depressionen und irrationalen Hochgefühlen“ ablösten (PIC 2×07). Befallen von Euphorie und fantastischem Eskapismus, verschleppte sie ihren Sohn wiederkehrend in die Kellergewölbe des Châteaus und setzte ihn dadurch unnötigen Gefahren aus. Vater Maurice hatte immer wieder interveniert, war aber letztlich unfähig gewesen, etwas zu bewirken, da Yvette jede Form von Hilfe stets zurückgewiesen hatte. Diese schwerwiegende psychische Erkrankung war es, die dazu führte, dass sie sich eines Tages das Leben nahm. An diesem Tag war Yvette wieder mit Jean-Luc in den Keller geflohen, hatte ihn dort allein und in Furcht zurückgelassen, und Maurice war gekommen, um den Sohn aus seiner Notlage zu befreien. Nachdem er auch sie gefunden hatte, hatte der strenge, konservative und zuweilen grobe Familienpatriarch Yvette in seiner Verzweiflung am Abend in ihr Zimmer eingesperrt. Später hatte Jean-Luc sie auf ihr Flehen hin befreit, weil er glaubte, ihr zu helfen.
„Ich erinnere mich jetzt. In einem nebeligen Moment schwerster Melancholie hat meine Mutter sich erhängt, an dieser Stelle. Und bei allem, was ich erlebt, was ich gesehen und getan habe, habe ich mir stets verwehrt, mich an diesen Moment zu erinnern. Diesen Moment, den ich nicht ungeschehen machen kann. Man hat mir gesagt, meine Mutter sei krank gewesen, aber ich habe sie immer als beseelt empfunden. In dieser Nacht hatte mein Vater sie in ihr Zimmer gesperrt, zu ihrem eigenen Schutz. Und vielleicht auch zu meinem. Aber sie hat mich angefleht, sie herauszulassen, hat mir gesagt, wie sehr sie meine Hilfe bräuchte. Dies ist der eine Moment, an den zu erinnern ich mich ein Leben lang geweigert habe. Ich dachte, ich würde sie retten. Also habe ich sie, nachdem mein Vater eingeschlafen war, herausgelassen. Hätte ich es nur nicht getan. Meine Mutter wäre vielleicht eine alte Frau geworden. Ich habe mir sie immer vorgestellt, wie sie mir im Alter eine Tasse Tee anbietet. Mich auf einen Plausch einlädt. Dieser Schlüssel hat in unserem Haus immer an einer anderen Stelle gelegen. Ich wünschte so, ich hätte ihn an diesem Tag nicht gefunden. Ich habe sie geliebt. So innig geliebt.“ (Jean-Luc Picard in PIC 2×09)
Das tragisch zu Ende gegangene Verhältnis zu seiner Mutter dient dazu, verschiedene Aspekte von Picards weiterem Leben zu erklären:
- Der junge Jean-Luc, der nicht verstand, was mit seiner Mutter geschehen war, verdrängte zum Selbstschutz die Erinnerung an die genauen Umstände des Selbstmords. Stattdessen lebte in seinem Unterbewusstsein die märchenartige Metapher einer würdevollen Königin fort. Diese Königin hatte ihn stets als „Prinzen“ bezeichnet und dazu animiert, eines Tages zu einem Mann heranzuwachsen, der über die Fähigkeit verfügt, anderen durch die richtige Ansprache Mut einzuflößen, auf dass sie ihm folgen. Die Königin wurde eines Tages in einem dunklen Keller von fremden Kreaturen entführt, und in diesem Keller verblieb auch der Prinz, der es nicht schaffte, sie zu finden und zu befreien. Die metaphorischen Szenen um die Königin, den Prinzen und die Monster im Keller stehen sinnbildlich für den nie bewältigten inneren Konflikt. Yvette Picard war immer so etwas wie eine heilige, reine Gestalt für den Jungen gewesen, die er einfach hatte beschützen wollen.
- Auch wenn er aufgrund des Traumas keine konkreten Erinnerungen mehr an die Vorgänge hatte, in deren Folge sich Yvette das Leben nahm, schob er von nun an instinktiv seinem Vater die Schuld zu, den er als „Monster“ in Erinnerung behielt. Die häufigen Konflikte zwischen seinen Eltern und Maurices charakterliche Rohheit hatte er immerhin zuhauf kennengelernt. Daher lebte er von nun an im Glauben, Maurice hätte Yvette damals – und das über längere Zeit – Gewalt angetan und sie so sehr leiden lassen, dass sie letztlich nicht mehr leben wollte und den Freitod wählte („Du bist unbarmherzig gewesen, Vater. So viel Grausamkeit. Du hast sie gebrochen.“). Eine Aussprache zwischen beiden hatte offenbar nie stattgefunden – auch weil Maurice seinerseits Jean-Luc als (unabsichtlichen) Verursacher oder Wegbereiter von Yvettes Selbstmord ansah. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war also auf Dauer schwer belastet. Hinzu kam der Umstand, dass Jean-Luc und Maurice von ihrem Wesen her enorm unterschiedlich waren und dies die Mauer zwischen ihnen weiter verstärkte (PIC 2×07). Gänzlich frei von jeder Schuld ist Picards Vater im dynamischen Geschehen, das sich auf Yvettes Suizid zubewegte, bestimmt nicht. Er scheint ein emotional wenig einfühlsamer Mann gewesen zu sein, der im Grunde nie einen Zugang zur empfindsamen Persönlichkeit seiner Gattin gehabt hatte (womit wir wieder bei der Schlüsselsymbolik angelangt wären, denn Maurice fehlte der Schlüssel zu ihrem Herzen). In erster Linie wollte er, dass die Familie unter ihm als patriarchaler Wagenlenker ‚funktioniert‘. Maurice mag seine Frau auf seine Weise geliebt haben, er mag sie nicht in den Selbstmord getrieben haben, aber zweifellos war er ein überforderter Mann, der seiner Frau mehr lethargisch als unterstützend beim Weg in den Untergang zusah. Yvette wiederum war ihrerseits eine Gefangene ihrer selbst. So sehr sie ihren Sohn liebte, war sie mit sich selbst beschäftigt, eine Getriebene ihrer extremen Stimmungsschwankungen, denen sie ausgeliefert war. So steckte am Ende jeder der Eltern in seiner Haut fest, und dies übertrug sich durch das erlittene Trauma am Ende auf den Sohn.
- Es ist anzunehmen, dass das Yvettes Suizid auch zwischen Jean-Luc und seinem älteren Bruder Robert stand und die ohnehin vorhandenen Probleme der sehr ungleichen Geschwister verschärfte, auch wenn das Thema in der TNG-Episode Familienbegegnung (4×02) nicht zur Sprache kam. Robert befand sich offenbar zu dem Zeitpunkt von Yvettes Selbstmord auf dem Internat.
- Yvette hatte mit ihrer fantasievollen und inspirierenden Art den weiteren Lebensweg Jean-Lucs (unabsichtlich) vorgeformt. Damit der intelligente, feinfühlige und wissbegierige Junge weniger unter den ständigen Auseinandersetzungen seiner Eltern litt, hatte sie ihm einen liebevollen Rat gegeben: „Und wenn wir doch hin und wieder mal laut werden, dann möchte ich, dass Du hinaufsiehst und Dir vorstellst, wie leise unsere Stimmen dort draußen werden. So leise, dass Du sie gar nicht hörst. Sieh hinauf zu den Sternen, Jean-Luc, sieh hinauf.“ (PIC 2×01) Aus der Ablenkung und Umgangsstrategie mit dem andauernden Streit seiner schwierigen Eltern war damit womöglich erst die nachhaltige Begeisterung Jean-Lucs für die Sterne erwachsen; der Traum, den Weltraum zu erforschen. Vielleicht glaubte Jean-Luc nach dem Tod seiner Mutter, ihr dort draußen instinktiv näher zu sein. Sie hatte ihn in ihren Geschichten und bei ihren Versteckspielen im Château für die Wunder und die Magie fremder Welten inspiriert. Führte sein Lebensweg ihn vielleicht auch deshalb so zielstrebig in die Sternenflotte? (Es muss sich jedenfalls um ein sehr tief sitzendes Kindheitstrauma gehandelt haben, das bei den psychologischen Eignungstests an der Akademie nicht aufgefallen ist.)
- Picard wurde fortan von einem erheblichen Schmerz angetrieben, was dazu führte, dass er das innere Bedürfnis hatte, dem Bild des „Prinzen“ gerecht zu werden und Gutes, Rechtschaffenes zu tun, um so das unterschwellige Schuldgefühl in Bezug auf Yvettes Selbstmord zu kompensieren. Vereinfacht gesagt musste Picard nun Welten retten, weil er seine Mutter nicht hatte retten können. Das alles ist jedoch unterbewusst abgelaufen.
- Aufgrund seines Traumas veränderte sich Picards Charakter deutlich. Auch wenn er verschiedene Phasen durchlebte und auf der Akademie vorübergehend (vielleicht gleichsam kompensatorisch) übertriebene Arroganz und Leichtsinn entwickeln sollte, hatte er insgesamt Probleme damit, seine Gefühle zu zeigen und längerfristige Liebesbeziehungen einzugehen, sich dauerhaft zu binden. Er errichtete massive Mauern um sein Seelenleben, das er vor nahezu allen unter Verschluss hielt. Dieses Problem wird auch in der Gegenwart der zweiten PICARD-Staffel virulent, wo Laris gerne mit ihm eine ernsthafte und auf Dauer angelegte Beziehung beginnen würde, Picard sie jedoch abblockt (PIC 2×01).
Die Traumgestalt von Maurice (gut vorstellbar, dass es sich in Wahrheit um Q handelt), die ihm erstmals in einer Vision als eigentümlicher Counselor gegenübertritt, analysiert den unterbewussten Mechanismus, den Picard sich im Laufe seines Lebens zurechtgelegt hat, wie folgt:
„Sie sind Captain. Moralisch, diplomatisch, kultiviert. Mit einer Affinität für die Künste…und doch so unbewandert, wenn es um das Herz geht. […] Wieso fällt es Ihnen so schwer, jemanden an sich heranzulassen? Sich zu öffnen? Ganz egal wen. Sie halten wirklich jeden auf Abstand. Ja, warum? Vielleicht um eine Version Ihrer selbst zu verbergen? Eine Version, die andere nicht sehen sollen. Eine dunklere Version möglicherweise. Eine heimliche Scham. Eine Schuld. […] Der rechtschaffene Jean-Luc. Es gefällt Ihnen, wenn man Sie so nennt. Sie brauchen diese Bestätigung von anderen. Weil Sie Ihnen ermöglicht, die Wahrheit auch weiterhin zu verdrängen. Sie sind so besessen von Tugend, Jean-Luc. Sogar die Geschichte, die Sie mir erzählen, handelt davon, wie das Gute über das Böse siegt.“ (PIC 2×07)
Es gibt noch eine weitere Person, die sich bedeutungsvoll zu Picards Trauma äußert. Die im Jahr 2024 auf der Erde zum Schutz der Astronautin Renée Picard abgestellte Wächterin Tallinn fasst ihrerseits Picards lebenslanges Kompensationsbestreben für sein unterschwelliges Schuldgefühl in Worte. Im Gegensatz zum Maurice-Therapeuten stellt Tallinn jedoch die positiven Folgen von Picards andauerndem Leiden in den Mittelpunkt, wenn sie sagt:
„Du wirst so viel aus diesem Schmerz machen. Du wirst ganze Welten retten…“ (Tallinn in PIC 2×07)
Die Eröffnung von Picards Kindheitstrauma verändert ohne Frage unsere Sicht auf seinen Charakter. Erschien er in TNG als jemand, der irgendwann aus freien Stücken entschieden hatte, ein anderer Mensch zu werden, welcher danach strebte, „besser zu sein als man ist“ (X: Nemesis), wirkt er nun ein gehöriges Stück durch seine dramatische Kindheitserfahrung determiniert. Das Gefühl von Scham und Schuld wurde zu einer subkutanen Triebfeder, jenen Lebensweg einzuschlagen und jener ehrenvoll-humanistische Mann zu werden, den wir kennengelernt haben. Picard hätte es ohne dieses Ereignis möglicherweise nie in dieser Form hinausgezogen, Gutes zu tun und eine edlere Person zu werden. Andererseits kann man einwenden, dass es immer noch Picards eigene Entscheidung war, so mit seinem einschneidenden Kindheitserlebnis umzugehen, und man kann argumentieren, dass jemand anderes dies nicht in der Weise getan hätte. Die Verbindung zu seiner hoch sensiblen Mutter hatte Picards Bewusstsein und seine Sehnsucht nach einem Leben in der Sternenflotte erst noch weiter befördert; es entsprach gewissen romantisch-märchenhaften Vorstellungen, die sie in ihm verankert hatte. Vor dem Hintergrund des prägenden Schockerlebnisses in frühen Jahren müssen wir auch die Bedeutung und den Stellenwert der TNG-Crew neu bewerten. Der Zirkel seiner Führungsoffiziere auf der Enterprise sollte zu Picards verschworener Gemeinschaft und zu seiner Ersatzfamilie werden. Seine Getreuen waren für ihn offenbar noch weit mehr ein Schlüssel zur Selbstfindung als wir angenommen hatten. Denn dies waren (abgesehen vielleicht von seinem alten Freund Jack Crusher) jene Frauen und Männer, die an ihn herankamen, denen er bedingungslos vertraute, denen er – der zurückgezogene, emotional verschlossene Mann – sich erstmals wirklich öffnete, mit denen er ein dauerhaftes und tiefes Band einging. Denken wir beispielsweise an die vielen, teils sehr persönlichen Gespräche mit Beverly Crusher, Guinan und Deanna Troi. Und erinnern wir uns der Trauerszene in Treffen der Generationen, in welcher er sogar im Beisein von Troi weinte. In Gestern, Heute, Morgen (TNG 7×25; 7×26) entschied er sich dann, als Privatmann die Gesellschaft seiner Crew zu suchen und begann ab da, mit ihnen Poker zu spielen. Diese freundschaftlich-familiäre Basis wirkte sich auch auf andere Personen aus, zu denen er Vertrauen fasste. In der TNG-Episode Der Feuersturm (6×19) ging Picard sogar eine romantische Beziehung mit Nella Daren ein, auch wenn diese rasch scheiterte. Auch in Der Aufstand öffnete er sich der Ba‘ku Anij. Ohne die besonderen Frauen und Männer auf der Enterprise, die Picard schließlich abhanden kamen, verfiel er wieder in sein früheres Muster: Er wurde wieder ein Mann, der seine Umgebung auf Abstand hielt.
Ein wesentlicher Teil Picards hat damit stets in der Vergangenheit, im Moment des Todes seiner Mutter, gewurzelt, welcher ihn niemals wirklich losließ. Q bringt es bei ihrem letzten Gespräch auf den Punkt, wenn er dem inzwischen 96-jährigen Picard sagt:
„Ist das nicht die ewige Frage: Erkenne Dich selbst. […] Menschen… Immer Trauer, immer Schmerz. Ihr seid fixiert auf Momente, die längst vergangen sind. Ihr seid wie Schmetterlinge, die Flügel festgepinnt. Mein alter Freund: Auf ewig der kleine Junge, der mit der falschen Drehung eines Schlüssels das Universum in seinem Herzen zerbrochen hat.“ (Q in PIC 2×10)
Q nimmt für sich in Anspruch, den alten Picard von den Ketten der Vergangenheit befreit zu haben; es soll sein letztes Geschenk an ihn sein, auf dass Picard nun endgültig mit sich ins Reine kommen und gänzlich im Hier und Heute leben kann. Und ähnlich wie in der Folge Willkommen im Leben nach dem Tode (TNG 6×15) wird Picard einmal mehr begreifen, dass die dunklen Phasen seines Lebenswegs ihn längerfristig nur zu einem besseren Menschen gemacht haben. Vor dem Hintergrund all dieser Erkenntnisse wird er es letztlich schaffen, sich nach seiner Rückkehr ins 25. Jahrhundert zu Laris zu bekennen und mit ihr eine Liebesbeziehung einzugehen, die auf Dauer angelegt sein soll – für den Entdecker Jean-Luc Picard im wahrsten Sinne uncharted territory.
„Es ist nicht so, als hätte ich noch nie zuvor geliebt. Das habe ich. Manchmal sogar von ganzem Herzen.“ – „Ja, aber nur dann, wenn es zeitlich befristet möglich war. Sodass Sie nie wirklich Angst haben mussten, sich ernsthaft und länger zu binden. […] Das Problem ist nicht die Zeit. Das Problem sind Sie.“ (Jean-Luc Picard und Guinan in PIC 2×01)
Was verbindet Picard und Laris?
Das führt uns zur nächsten Frage: Wieso ist es gerade Laris, die Picard als seine Partnerin wählt und sich auf eine feste Beziehung mit ihr einlässt? Die romulanische Haushälterin erfüllt bei näherer Betrachtung gewisse Charakteristika der wenigen Frauen, mit denen er in der TNG-Ära kurzweilige Romanzen hatte. Zuweilen ist sie herausfordernd und temperamentvoll wie die Archäologin Vash (TNG 3×19; 4×20), ruhig, rational und hingebungsvoll wie Nella Daren, und sie birgt eine Weisheit in sich, die an Anij denken lässt. Bei Picard und Laris ist klar erkennbar, dass sie einander auf Augenhöhe begegnen. Manchmal wird kein Blatt vor den Mund genommen; Laris und er sind zu lange in der Nähe des anderen, um sich gegenseitig etwas vorzumachen. Die Beziehung zwischen beiden atmet enorme Vertrautheit; Laris kennt ihn sehr gut und kann ihn einschätzen, was sie an bestimmten Punkten der Serie eindrucksvoll demonstriert. Beispielsweise fragt sie ihn zu Beginn der zweiten Staffel mit bedeutungsvoller Stimme und Miene:
„Als ich hier anfing zu arbeiten, hatte ich Sie für einen Mann gehalten, der nach den Sternen greift. Und nach all dieser Zeit frage ich mich inzwischen: Waren Sie auf der Suche oder auf der Flucht?“ (Laris in PIC 2×01)
Dennoch scheint Laris auch zutiefst dankbar zu sein für das, was Picard für sie und Zhaban getan hat, angefangen damit, dass er ihnen auf dem Château ein neues Zuhause gab. Trotz seines Sturzes als großer Sternenflotten-Admiral lässt sie ihn im Pilotfilm Gedenken empathisch wissen:
„Nach all dieser Zeit glaube ich manchmal, dass Sie vergessen haben, was Sie erreicht haben. Und wer Sie sind. Wir haben es nicht.“ (Laris in PIC 1×01)
Solche Aussagen beweisen, dass Laris nicht einfach nur eine Person ist, die sich auf Picards Weingut in leitender Position nützlich gemacht hat. Sie ist viel mehr als das: Laris ist unmittelbar mit seiner schwierigen Vergangenheit verknüpft; sie hat ihm – vermutlich im Zuge etlicher Gespräche und Appelle – geholfen, diese zu verarbeiten, mit ihr klarzukommen, sein neues Leben zu akzeptieren und einen Rest von Selbstachtung zu bewahren. Laris hat ihn aufgerichtet. Sie ist damit auch die Verkörperung der Aussicht, sich sein Scheitern während der wichtigsten Mission seines Lebens zu vergeben, das Picard über die Jahre wie ein dunkler Schatten verfolgte. All das hat diese beiden Figuren immer mehr zusammenrücken lassen.
Zu Beginn von Staffel zwei finden sich Picard und Laris in neuer Konstellation wieder, ohne Zhaban, der offenbar Laris‘ langjähriger Partner gewesen war und eines Tages plötzlich verstarb. Ihre Beziehung hat sich verändert; sie sind nun weniger förmlich, machen Witze miteinander. Laris nennt Picard beim Vornamen und wird in ihren Fragen und in ihrer Art der Gesprächsführung persönlicher, ja intimer. Sie scheint seine Nähe sichtlich zu genießen. Und letzten Endes sehen wir, welche Erfüllung es ihr bereitet, dass Picard jenen Schritt auf sie zugeht, der sie beide tatsächlich zu einem Paar werden lässt. Besieht man sich also ihr langjähriges, äußerst belastbares Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis sowie Laris‘ exzellente Kenntnis und ihr intuitives Verständnis seiner Person, gibt es wohl nur wenige Personen, bei denen ein so tragfähiges Fundament besteht wie bei Laris und Picard. Beide scheinen bereit, noch einmal einen neuen Lebensabschnitt miteinander zu beginnen. Im Herbst 2401 planen sie, vorübergehend das Château zu verlassen und nach Chaltok IV umzuziehen. Ob ihre Beziehung, kaum hat sie glücklich begonnen, dann tatschlich weiter geht, lässt die Serie offen. Denn die Ereignisse von Season drei ändern eine Menge in Picards Leben. Als Beverly Crusher nach langer Zeit wieder auftaucht (PIC 3×01), spricht einiges dafür, dass Laris sehr genau ahnt, was nun passieren wird. Dass Picard nämlich wieder die Rückreise in seine Vergangenheit antreten könnte, der er stets so verhaftet blieb, indem er erneut in den Kreis seiner alten Freunde tritt. Wusste sie aufgrund ihrer langjährigen Tal Shiar-Vergangenheit vielleicht sogar von Jack? In der letzten Szene der beiden verhält sich Laris in jedem Fall bemerkenswert: Sie unternimmt gar nicht erst den Versuch, Picard auszureden, was er sich unlängst überlegt – Crusher zu suchen und ihr zur Hilfe zu kommen. Im Gegenteil, auch wenn es ihr nicht leichtfallen mag, bestärkt sie ihn sogar darin, indem sie ihm bewusst macht, dass Picard seiner alten Freundin gegenüber verpflichtet ist („Dies ist das Leben, das wir gewählt haben“). Laris geht damit ein beträchtliches Risiko ein, Picard am Ende womöglich wieder zu verlieren. So kann im Grunde nur jemand handeln, der aufrichtig liebt und der jederzeit bereit gewesen ist, der geliebten Person reinen Wein einzuschenken. Das alles spricht gewiss für Laris.
„Es gibt da eine ganz tolle Bar auf Chaltok IV. Da kann man sich den Sonnenuntergang ansehen. Ich halte Dir einen Platz frei.“ (Laris in PIC 3×01)
Wie der Vater, so… – Worin besteht der Link zwischen Picard und Jack Crusher?
Kommen wir an dieser Stelle erneut auf Picard und Jack Crusher zurück. Zu Beginn der Finalstaffel begegnet Picard seinem leiblichen Sohn zum allerersten Mal und erfährt dadurch von dessen Existenz. Mag Jack ihm kurzzeitig nachgespürt haben, um herauszufinden, wer sein Vater ist (PIC 3×04), traten beide im gegenseitigen Wissen voneinander noch nie in Kontakt. Trotz dieser großen Fremdheit und von Jacks Seite teils erheblicher Vorurteile in Bezug auf Picard sehen wir, dass sie sich binnen weniger Wochen stark aufeinander zu bewegen. Daher stellt sich die Frage, ob es Gemeinsamkeiten zwischen Picard und Jack Crusher gibt, die über reine Storybegebenheiten – den Zwang, im Angesicht dramatischer Ereignisse zusammenzuarbeiten – hinausgehen und ihnen helfen, sich als wahrhaft zusammengehörig, als Vater und Sohn zu begreifen. Falls ja, worin besteht diese besondere Verbindung? Und was sagt sie über einen Mann wie Jean-Luc Picard aus?
„Dieser junge Mann ist Ihr Sohn? Selbst das Vatersein wird bei Ihnen zu einem Vorfall intergalaktischen Ausmaßes.“ (Geordi La Forge in PIC 3×06)
Schnell wird erkennbar, dass Jack wie sein Vater eine romantisierte Sicht auf das Leben und den Weltraum vertritt, ohne dass er deshalb naiv ist. Im Grunde tritt er uns als eine Art moderner Robin Hood gegenüber, der von sich behauptet, „Gutes ins gottlose Universum“ zu bringen (PIC 3×02), und tatsächlich steht im Mittelpunkt seines Lebens die Aufopferung, um das Leid anderer zu lindern. Das ist zum einen eine Eigenschaft, die ihm seine altruistische Mutter Beverly übertragen hat, aber es ist auch eine Verbindungslinie zu Picard. Jack lebt in einem anarchischen, zuweilen unbarmherzigen und grausamen Universum, in dem er sozialisiert wurde, und er hält es für vertretbar, die Regeln ab und an zu biegen oder auszuhebeln, wenn sie einem im Weg stehen. (Interessanterweise spiegelt er hier ein wenig den kriminellen Background von Picards angeblichem Sohn Jason Vigo in TNG 7×22 wider.) Doch die Ziele, für die er eintritt, haben nichts mit Selbstbereicherung oder persönlichem Vorankommen zu tun. Ganz im Gegenteil: Jack bringt sich für Andere unablässig in Gefahr. Er besitzt einen starken Gerechtigkeitssinn und orientiert sich an humanistisch-rechtschaffenen Idealen. Um für Schwache und Kranke zu kämpfen, ist er bereit, aufzustehen, etwas zu riskieren. So offenbart sich Jack als ein junger Mann mit Standhaftigkeit und Mut – eine Qualität, die er mit Picard teilt, welcher zwar der Sternenflotte zumeist loyal war, aber niemals um jeden Preis. Ähnlich wie sein Vater ist Jack bereit, sein Leben notfalls für Andere aufzugeben, davon können wir uns immer wieder überzeugen. So will er sich bei etlichen Gelegenheiten bereitwillig Vadic und ihren Schergen ausliefern, weil er den Gedanken schwer erträgt, dass jemand wegen ihm zu Schaden kommen könnte (namentlich die Crew der Titan). Jack demonstriert ferner das Picard eigene Talent, andere durch seine Worte zu berühren, ihnen ins Gewissen zu reden und für sich zu gewinnen.
„Jack hat so eine Theatralik.“ – „Er ist eine Weile auf einer Schauspielschule gewesen. Vielleicht liegt es in seinen Genen.“ (Jean-Luc Picard und Beverly Crusher in PIC 3×03)
Zugleich ist er unerfahren, agiert oft leichtsinnig und affektorientiert, ohne Entscheidungen heranreifen zu lassen. Jack weist hier frappierende Ähnlichkeiten mit dem jungen Picard auf (TNG 6×15; X: Nemesis). Dieser damalige Kadett und angehende Offizier, so brachte es uns TNG näher, war ob seiner Handlungen und deren Folgen recht unreflektiert, extrem selbstbewusst, anmaßend und gelegentlich ein Maulheld, mit einem Mangel an persönlicher Disziplin ausgestattet und auch leichtsinnig. Er hatte Schwierigkeiten, sein Ego zu bändigen, was unvermeidliche Resultate zeitigte. Höhe- und Wendepunkt dieser Entwicklung war ein Erlebnis, das der junge Picard 2327 auf der Sternenbasis Earhart gehabt hatte. Dort hatte er bei einem Dom-Jot-Spiel drei Nausikaaner provoziert und war mit ihnen in einen Kampf geraten. Dabei wurde Picard von hinten erstochen und beinahe getötet. Seitdem musste er mit einem künstlichen Herz weiterleben (TNG 2×17; 6×15). Nach diesem Vorfall veränderte Picard sukzessive seine Lebenseinstellung und sein Verhalten. Der „arrogante Narr“, wie er sich rückblickend bezeichnen sollte, würde „erwachsen“ werden, und über die Jahrzehnte formte sich ein Mann der Besonnenheit, Weisheit und Integrität. Diesen einstigen Leichtsinn finden wir im Guten wie im Schlechten auch bei Jack, der sich auf seine ungestüme Weise als eine Art ‚chaotisch gute‘ Person darstellt. Er hat aber niemals die Borniertheit des jungen Picard gehabt, sondern ist eher von Demut, entwaffnender Ehrlichkeit und einer gewissen Unsicherheit bestimmt, die er erkennbar zu überspielen sucht.
Andererseits stellt Jack in PIC 2×09 die bedeutungsschwere Frage: „Wie viel von mir steckt in mir?“ Sein ganzes Leben hat er instinktiv gemerkt, dass er irgendwie anders ist, dass er sich Anschluss und „Verbindung“ wünscht (PIC 3×06; 3×07). Diese innere Einsamkeit, die Suche nach Zugehörigkeit und geistiger Heimat, verbindet ihn ebenfalls mit dem jungen Picard, auch wenn es bei ihm kein direktes Kindheitstrauma oder toxische Familienverhältnisse waren, die ihn die Frage nach seinem wahren Ich stellen lassen. Bei Jack ist es vielmehr eine Mischung seiner (erst am Ende der Staffel bekanntwerdenden) Veränderung durch die Borg, aber auch seiner Lebensumstände als Kind nur eines Elternteils, welches in frühen Jahren die hässlichen Seitens des Alls kennengelernt hat und das allzu oft allein war. Bei näherem Hinsehen kann also kein Zweifel bestehen: Trotz ihrer ganz unterschiedlichen Lebenswege ist Jack Crusher eindeutig der Sohn von Jean-Luc Picard, und mit dem Zeitpunkt ihrer Begegnung haben ihre unterschiedlichen Welten begonnen, sich aufeinander zuzubewegen und zu umkreisen – bis hin zu dem bedeutungsschweren Augenblick, an dem Jack erkennt, dass er nun wahrlich nicht länger allein ist (PIC 3×10). Dass Picard sich mit ganzer Hingabe zu seinem Sohn bekennt, ist auch für ihn das Ende eines langen Wegs, voll und ganz bei sich selbst anzukommen.
„Auch ich habe ein paar gute Seiten, glaube ich. Ich bin meist fürsorglich, oft hartnäckig, prinzipientreu. Sogar schlau hin und wieder. All das habe ich von meiner Mutter. Aber bisweilen bin ich auch mutig, loyal und sehr viel weiser, als es mir eigentlich zusteht. Und bis vor einer Woche war mir nicht klar, woher ich das habe.“ (Jack Crusher in PIC 3×06)
Wie steht es um Picards moralischen Kompass?
Besonders kontrovers lässt sich darüber diskutieren, ob Admiral a.D. Jean-Luc Picard im Hinblick auf seine ethisch-moralische Integrität noch von jenen Überzeugungen aus TNG-Tagen geleitet wird. Dort war er der Captain, der bestrebt war, kluge, friedliche und diplomatische Lösungen zu finden; der Mann, der prinzipiell vor dem Wert des Lebens an sich tiefen Respekt hatte und für den es immer eine positive Alternative gab, wenn man nur bereit war, nach ihr zu suchen. Im Laufe etlicher Episoden reichte er selbst erbitterten Gegnern die Hand oder wandte Eskalationen und bewaffnete Konflikte ab. Auch in der neuen Serie hält Picard bei verschiedenen Gelegenheiten humanistisch orientierte Ansprachen oder versucht einzelnen Personen ins Gewissen zu reden, sodass Reminiszenzen an frühere Tage nicht zufällig geweckt werden. Am Ende von Season eins ist er beispielsweise bereit, sein Leben selbstlos aufzugeben, um Maddox‘ und Soongs Androidenkolonie vor den Romulanern zu schützen. Er hält zugleich ein beschwörendes – und letztlich erfolgreiches – Plädoyer an Soji, Wut und Angst auf das organische Leben nicht freien Lauf zu lassen (PIC 1×10). Entgegen solcher Momente stehen Picards praktische Handlungen indes zuweilen im Widerspruch zu seinen salbungsvollen Reden und Beschwörungsformeln. Die erste Situation, in der unser Bild von der Moralfestigkeit des früheren Flaggschiffkommandanten ein Stück weit erschüttert wird, hängt mit der Begegnung mit Seven of Nine zusammen. Die ehemalige Borg hat sich nach ihrer Rückkehr mit der U.S.S. Voyager aus dem Delta-Quadranten den Fenris-Rangers angeschlossen und ist es nach Jahren als Vorkämpferin für deren Sache gewohnt, die Dinge ein wenig rabiater anzugehen. Als sich ihre und Picards Wege kreuzen und sie zusammenarbeiten, ergibt sich eine Situation, in der Seven Rache an der kriminellen Bjayzl nehmen möchte. Diese unterzog dereinst ihren Schützling Icheb einer brutalen und tödlichen Prozedur, um seine Borg-Implantate zu extrahieren und diese gewinnträchtig auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen (PIC 1×05). Zuerst insistiert Picard noch etwas kleinlaut, Mord sei keine Gerechtigkeit. In einer späteren intimen Szene, bevor Picard sie mit einem doppelten Aufgebot von Energiewaffen in Bjayzls Etablissement nach Freecloud beamt, fragt Seven ihn, ob er glaubt, seine Menschlichkeit nach seiner Rückkehr von den Borg wieder voll und ganz zurückerlangt zu haben. Es klingt wie eine rhetorische Frage. Picard erwidert darauf nach kurzem Zögern: „Nein, aber wir arbeiten daran, nicht wahr?“. Dadurch öffnet er Seven eine Tür, um ihren Rachefeldzug in die Tat umzusetzen, ja er liefert sogar eine Rechtfertigungsfolie hierfür. Was mag in jenem Moment in ihm vor sich gehen? Erinnert er sich womöglich an seinen eigenen Wunsch nach Vergeltung im Kinofilm Der Erste Kontakt (2373)? Daran, dass es manchmal angemessen sein mag, jemandem seine Rache zu gewähren? Trotz aller Beschwörungen von Lily Sloane und Co. hat Picard sie im genannten Film bekommen, und nun scheint der gefallene Sternenflotten-Offizier Seven ebenfalls zu ermöglichen, ihrem Abrechnungsbedürfnis nachzugehen. Er verbindet dies mit der Aufforderung, anschließend zu ihrer Menschlichkeit zurückzukehren und daran festzuhalten. Dies ist jedenfalls nicht der Picard, den wir aus TNG kannten, sondern jemand, der bereit ist, zwischen extremen Gemütszuständen zu balancieren und finsteren Gefühlen Raum zu geben, um anschließend gleichsam kathartisch ins Licht der Läuterung zurückzufinden.
Noch erheblich gravierendere Änderungen in Picards Verhalten beobachten wir spätestens im Laufe von Staffel drei. In PIC 3×07 schlägt Beverly Crusher vor, auf Basis der von ihr festgestellten biophysischen Merkmale der neuen Formwandler eine spezielle Identifikationsmethode zu entwickeln, die sich wahrscheinlich auch zur Massenvernichtungswaffe ausbauen lässt. Obgleich sie sich eines gewissen ethischen Dilemmas bewusst ist, scheint Crusher – die zusammen mit ihrem Sohn seit Monaten erbarmungslos von Vadic gejagt worden ist – mit der Idee zu liebäugeln, den neuen Wechselbälgerstamm auszulöschen. Picard bestärkt sie darin, eine solche Waffe zu entwickeln und schiebt etwas kleinlaut hinterher: „Das moralische Dilemma werden wir abwägen, sobald es konkret wird.“ Diese Aussage aus Picards Mund verwundert schon, da er es ist, der eben noch darauf hingewiesen hat, dass die Entwicklung einer solchen Biowaffe eine ziemlich exakte Wiederholung dessen wäre, was Sektion 31 einst mit dem gegen die Gründer eingesetzten morphogenen Virus angerichtet hatte und das erst Vadics grenzenlosen Hass auf die Föderation heraufbeschworen hat. Daher ist der Gedanke einer erneuten Entwicklung einer Massenvernichtungswaffe gleich doppelt schwierig, würde dies doch jedes Vorurteil der Gründer in Bezug auf die Solids im Allgemeinen und die Föderation im Speziellen zementieren. Zugleich ist es ein eigentümliches Vorgehen, diese Waffe erst einmal zu entwickeln und dann zu gegebener Zeit zu entscheiden, ob man sie einsetzen werde. Der Akt, eine derartiges Vernichtungswerkzeug zu erschaffen und damit die ständige Möglichkeit in die Welt zu setzen, dass sie in die falschen Hände gerät und doch verwendet wird, stellt bereits eine schwere moralische Grenzüberschreitung dar; sie steht sicher nicht im Einklang mit den Grundwerten der VFP, die die Würde sämtlicher Spezies hochhalten. Andererseits muss man Picard zugutehalten, dass die Gründer schon früher als erbitterte, gewissenlose Feinde aufgetreten sind und im Zuge des von ihnen entfesselten Dominion-Kriegs in erschreckender Weise demonstriert haben, zu was sie in der Lage sind.
In ähnlicher Weise zugespitzt erleben wir Picards moralische Denk- und Handlungsweise im späteren Verlauf der Episode. Nachdem Vadic in Gefangenschaft an Bord der Titan geraten ist und ihre Absichten sowie ihre Hintergründe offenbart hat, findet Picard unter dem Zuspruch Crushers relativ rasch zur Erkenntnis, Vadic sei eine „Henkerin in eigener Sache“, mit der es unmöglich sei, einen Status quo zu finden (PIC 3×07). Im Ergebnis scheinen beide überzeugt, Vadic zu exekutieren, um die vor ihnen liegende Bedrohung zu beseitigen. Diese Haltung erscheint hier in vielerlei Hinsicht fraglich und angreifbar:
- Erstens ist Vadic ohnehin gefangen, und zum Zeitpunkt von Picards und Crushers Entscheidung, sie liquidieren zu wollen, geht von ihr keine unmittelbare Gefahr mehr aus.
- Zweitens hat sich Vadic selbst als ehemalige Kriegsgefangene und Opfer verwerflicher Experimente von Sektion 31 zu erkennen gegeben (was den Kriegsverbrechen während des Dominion-Kriegs, die in der Verantwortung der Föderation liegen, ein weiteres Kapitel hinzufügt). Auch wenn es Picard schwerfallen mag, angesichts von Vadics Verbrechen ungetrübtes Mitleid mit ihr zu empfinden, könnte man doch erwarten, dass er den Versuch unternimmt, einen Schritt auf sie zuzumachen, indem er ihr versichert, die Machenschaften der Föderation aufzuklären und die Verantwortlichen dieser Experimente zur Rechenschaft zu ziehen. Dies wäre immerhin ein Versuch des Entgegenkommens, den Picard allerdings nicht einmal pro forma unternimmt.
- Drittens erscheint Vadic zu diesem Zeitpunkt als zentrale Drahtzieherin einer Formwandlerverschwörung, die die Sternenflotte infiltriert hat; es steht zu vermuten, dass sie eine Menge weiß. Da bekannt ist, dass zum nahenden Frontier Day der Sternenflotte eine schwerwiegende Aktion von Vadic und ihren Mitverschwörern geplant ist, sind der Bedarf, von ihr Informationen zu bekommen, ebenso wie der Zeitdruck besonders groß.
- Doch Picard geht offenbar in eine andere Richtung; scheinbar möchte er auf Nummer sicher gehen, indem er Vadic eliminiert, und dies gilt dem Wortwechsel mit Crusher zufolge v.a. dem Schutz ihres gemeinsamen Sohnes. Dies wäre ein vierter Kritikpunkt, der sich Picards und Crushers Wortwechsel deutlich entnehmen lässt. Ist Mord im Angesicht seiner Vaterschaft plötzlich legitim? Siegen Biologie und Abstammung über moralische Grundprinzipien?
Man kann die Szene natürlich auch anders lesen. Es wäre nämlich denkbar, dass Picard und Crusher eine bewusste Drohkulisse Vadic gegenüber aufbauen, um Druck auf sie auszuüben. Dafür spricht, dass sie nur wenige Meter neben der hinter einem Kraftfeld eingesperrten Formwandlerin stehen, als sie sich darüber austauschen, wie mit ihr zu verfahren sei, anstatt in sicherer Entfernung. Immerhin mutmaßt Vadic bereits zu Beginn ihrer kurzen Gefangenschaft, beide wollten ein abgekartetes Spiel mit ihr spielen, um ihr Angst einzujagen und sie gefügig zu machen. Handelt es sich also lediglich um einen Bluff? Verfolgt man den weiteren Verlauf der Geschehnisse an Bord der Titan, kann man eigentlich nur zum Schluss kommen, dass Picard ernst meinte, worüber er mit Crusher sprach. Denn er ist es, der Vadic zu einem späteren Zeitpunkt ins Vakuum des Weltraums (und damit in den sicheren Tod) ausschleusen lässt – abermals in einem Moment, wo Vadic vergleichsweise wehrlos ist, weil ihr die Kontrolle über die Titan wieder entrissen wurde (PIC 3×08). Die geistig instabile, rachsüchtige Formwandlerin wird in ähnlicher Weise hingerichtet, wie Picard dies eine Episode zuvor skizziert hat. Und es ist der Admiral höchst selbst, der den Befehl hierzu erteilt („Brücke, Evakuierungsluke aktivieren!“). Vadic stirbt und nimmt all ihr Wissen mit sich; auch ihr potenziell wertvolles Schiff wird kurz darauf von der Titan pulverisiert, wobei hier immerhin im Vorfeld ein paar vitale Daten von Raffaela Musiker abgegriffen worden sind (PIC 3×09).
Etwas im Schatten der Geschehnisse rund um Vadic gibt es noch ein weiteres Feld, auf dem sich Picard moralisch fragwürdig verhält. Gemeint ist sein Umgang mit Datas Zwillingsbruder Lore, dessen Geist im Körper des experimentellen Daystrom-M-5-10-Androiden droht, Datas Persönlichkeit zu vereinnahmen und sich so dauerhaft unterzuordnen. Nachdem er den Kampf der beiden Persönlichkeiten innerhalb der Androideneinheit beobachtet hat, unterbreitet Picard salopp den Vorschlag, Lore zu löschen (PIC 3×07). Selbstverständlich ist Data sein Freund gewesen und ein herausragender dazu, er kann es kaum ertragen, ihn leiden zu sehen, und die Aussicht, ihn dauerhaft zurückzugewinnen, hält für Picard großes Glück bereit. Trotzdem überrascht, wie leichtfertig Lore von ihm zum Tode verurteilt wird und er hierin keinerlei Konflikt erkennt. Lore mag zwar in der TNG-Serie zumeist bösartig gewesen, ja als Bedrohung der Enterprise und ihrer Crew aufgetreten sein, doch er ist ein ebenso entwickelter Android wie Data es war. Data war in seinen Persönlichkeitsrechten anerkannt worden, und Picard hatte dies persönlich aus voller Überzeugung durchgesetzt (TNG 2×09). Doch Lore war dieses grundlegende Existenz- und Selbstbestimmungsrecht stets verwehrt worden. Nachdem man ihn bereits vor 30 Jahren in TNG aufgrund seines Verhaltens in Standgerichtsmanier zum ‚Tode‘ verurteilt hatte (er wurde deaktiviert, zerlegt und archiviert), ohne ihm zuvor einen fairen Gerichtsprozess zuzugestehen (TNG 7×01), wäre wünschenswert, dass Picard reflektiert, was Lore angetan wurde und worum es ihm nun umso mehr geht. Genau genommen führt Lore in PIC 3×07 selbst an, er wolle „nur überleben“, denn das sei „die menschliche Natur“. Erfüllt Lore damit nicht genuine Charakteristika des Menschseins? Doch Lore wird aufgrund seines vermeintlichen Schlechtseins per se ein Recht auf Leben abgesprochen; Picard unternimmt nicht einmal den Versuch, mit ihm zu verhandeln oder einen Kompromiss auszuloten (auch wenn dies zu erreichen unter den gegebenen Umständen zugegebenermaßen schwierig sein mag). Sein pauschaler Ansatz, Lore liquidieren zu wollen, um Data zu retten, ist weder aufgeklärt noch humanistisch, sondern ziemlich willkürlich und selbstgerecht. Noch in Staffel eins wurde vermittelt, dass synthetische Personen gleichwertige Lebensformen sind. Doch nun schwingt sich Picard auf, über Leben und Tod eben dieser Wesen zu richten – und zwar auf Grundlage seiner subjektiven Vorstellungen und Gefühle – und entmündigt Jene wieder, für deren Existenz und Selbstbestimmung er im Finale der ersten Season noch gekämpft hat. Lore spricht genau dies vergeblich in der ihm eigenen Sprache an:
„Wenn man ständig nur diesen selbstgerechten, selbsternannten Helden ausgesetzt ist, die ihre Moralvorstellungen auskotzen, als wäre Erbrochenes irgendwie etwas Gutes, dann sind Boshaftigkeit und Feindseligkeit und ein kleiner Anflug von Sarkasmus durchaus erforderlich.“ (Lore in PIC 3×07)
Warum und wann setzte der Wandel von Picards Moral ein?
Man kommt also schwer umhin, Picard zu bescheinigen, dass seine Prinzipienethik Schaden genommen hat und keinem konsequent rechtschaffenen Muster mehr folgt. Dies scheint sich nach dem Auftauchen seines Sohnes nochmals zu verstärken. In TNG hat er Widersacher und Feinde im Grunde nur aus Notwehr getötet, wenn also eine unmittelbare, extreme Bedrohungslage bestand, die akuten Handlungsdruck verursachte (TNG 1×25; 5×26; 6×01). Es zeichnete den Picard aus Enterprise-D-Tagen stets aus, dass er intensiv über Alternativen und Optionen nachgedacht hat. Hierfür zog er sich zurück und nahm sich die nötige Zeit; er konsultierte verschiedene Führungsoffiziere und Vertraute, um ein Problem von mehreren Seiten her zu betrachten – und eine Lösung zu finden, die im Sinne möglichst aller gut und richtig ist. Das bedeutet auch: Er gab sich nicht mit der erstbesten Lösung zufrieden. Der gealterte Picard agiert demgegenüber sichtlich weniger rational und mehr aus dem Bauch heraus; seine Entscheidungen kommen häufig spontan zustande. Hat er aufgehört, an „die Chance einer Möglichkeit“ zu glauben, wie Spock es auszudrücken pflegte?
Nun können wir über mögliche Gründe hierfür nachsinnen. Weshalb zeigt Jean-Luc Picard im Alter ein derart verändertes Verhalten? Woher kommt im Vergleich zu TNG-Zeiten sein Sinnes- und Befindlichkeitswandel, dass er ernstlich Massenmord erwägt und eine Exekution ins Werk setzt (noch dazu eine präventiv-überstürzte, die taktische Nachteile mit sich bringt)? Es wäre denkbar, dass Picard im Laufe seiner vielen Missionen, in denen er mit einer ganzen Reihe bösartiger und unversöhnlicher Feinde konfrontiert war, letztlich ein großes Ausmaß an Ernüchterung erfahren hat. So könnte er zum Schluss gekommen sein, dass die behütete Welt der Föderation nur existieren kann, wenn es Leute gibt, die in bestimmten Situationen harte und radikale Entscheidungen zu treffen bereit sind. Das wäre eine nahezu spiegelbildliche Übernahme der in DS9 noch hart kritisierten ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘-Philosophie der Sektion 31 (DS9 6×18). Darüber hinaus hat Picard gerade in den Kinofilmen immer weniger Abstand zu seinen Kontrahenten wahren können und wurde zusehends emotional kompromittiert. Wohl am extremsten besichtigen wir dies in Der Erste Kontakt (2373), wo er seinem Hass auf die Borg und v.a. ihre Königin so sehr zu erliegen droht, dass er gar bereit ist, Schiff und Crew dafür zu opfern (nicht umsonst verwendet Lily Sloane die berühmte Captain Ahab-Metapher). Die Szene am Ende des Films, in der er den kybernetischen Überresten der sich windenden Borg-Königin das Rückgrat bricht, spricht Bände. Aber auch in Der Aufstand (2375) ist Picard weiter zu gehen bereit als wir es in TNG jemals erlebt haben. Er schlägt seine Befehle in den Wind, quittiert den Dienst und wird zum Schutz der Ba’ku vorübergehend zu einem Vorkämpfer in eigener Sache. Die letzte Konfrontation mit Ru‘afo, der bereit ist, die Ba’ku zu eliminieren, führt Picards inneren Wandel vor Augen, denn obwohl er Ru‘afo nicht selbst tötet, leistet er doch Beihilfe hierzu. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Anführer der Son’a zu retten und damit Mildtätigkeit und moralische Größe zu beweisen, doch genau dies tut Picard eben nicht, weil er offensichtlich annimmt, dass Ru’afo keine Rettung verdient hat. In Nemesis (2379) schließlich wird Picard mit den verwerflichen Taten seines Klons Shinzon konfrontiert, die ihn in seinem Selbstverständnis erschüttern. In Summe all dieser einschneidenden Erfahrungen erscheint es plausibel, dass Picard nicht erst in der neuen Serie ein anderer Mann geworden ist. Vielmehr hat sich sein moralischer Kompass bereits im Laufe der 2370er Jahre nach und nach in dunklere Gefilde verschoben. Dann kommt noch das Trauma seiner jahrelangen, entbehrungsreichen und am Ende gescheiterten Rettungsmission in romulanischem Raum hinzu, die sein persönliches Wertefundament wahrscheinlich weiter erodiert hat.
Vorhin haben wir festgehalten, dass der ‚neue‘ Picard zwischenmenschliche Loyalitäten und Verbindungen hochhält. Dies ist ebenfalls ein Schlüssel zum Verständnis seiner gewandelten Ethik. Denn wenn die Verbindung zu Freunden, geschätzten, vertrauten und geliebten Personen im Spiel ist, entspricht seine moralische Handlungsmaxime am ehesten dem Picard früherer Tage. Andererseits führen diese verbindenden Gefühle potenziell auch zu Kollateralschäden, wie das Beispiel Lore zeigt (PIC 3×07; 3×08). Wiederum um seinen Sohn Jack zu schützen, ist Picard viel leichter bereit, moralische Grenzüberschreitungen wie im Fall des Umgangs mit Vadic zu begehen. Oder man bedenke, dass Picard in PIC 3×02 erst die Initiative ergreift, um Jacks Auslieferung an Vadic zu unterbinden, als er erfährt, dass Jack nicht nur Beverly Crushers, sondern auch sein Sohn ist. Jack ist immerhin ein Mensch, dem womöglich eine Art Lynchjustiz droht. Und trotz alledem bedarf es erst der persönlichen (sprich: biologischen) Involvierung, um zu tun, was seinem ureigensten Wertekanon entspricht? Um Wesley Crusher zu protegieren, brach Picard dereinst die Oberste Direktive (TNG 1×08). Für Datas Tochter Lal verweigerte er den direkten Befehl eines vorgesetzten Admirals (TNG 3×16). Für die Ba’ku zettelte er einen Aufstand gegen eine Anweisung des Föderationsrates an (IX: Der Aufstand). Und nachdem sich herausstellte, dass Jason Vigo nicht sein Sohn ist, wie der Ferengi Bok behauptet hatte, war Picard trotzdem bereit, sich in Lebensgefahr zu begeben, um den jungen Mann zu befreien (TNG 7×22). Aber hier braucht er erst emotionale Starthilfe, einen urpersönlichen Grund, aktiv zu werden? Für den Picard, den wir aus TNG kannten, waren Gene, Herkunft, Taten oder was auch immer in solchen Fragen keine relevanten Kriterien. Picard 2.0 ist so gesehen keine eigenständige und objektiv agierende moralische Größe mehr, sondern ganz klar an diejenigen Personen gebunden, die ihm in seinem letzten Lebensabschnitt besonders wertvoll sind. Er ist ein weithin larmoyanter Mensch geworden, im Guten wie auch im Schlechten.
Fazit: Dekonstruktion oder Demontage des legendären Captains?
Für viele von uns – mich eingeschlossen – war Jean-Luc Picard ein Vorbild, das durch Prinzipientreue, Tat und Wort zu inspirieren wusste. Er spornte uns damit an, an ein besseres Morgen zu glauben und jeden Tag Schritte zu unternehmen, die in eine bessere, gerechtere Gesellschaft führen. In Star Trek: PICARD lernen wir den titelgebenden Ex-Captain neu kennen. Das gilt längst nicht nur für sein dramatisches Kindheitstrauma, welches sein Leben und seine Motivationen nachhaltig mitlenkte, ohne dass wir zu einem früheren Zeitpunkt etwas davon erfuhren. Wie man es auch dreht und wendet: Trotz einzelner Kontinuitätslinien zeigt sich der Charakter des Jean-Luc Picard – mit dem wir als Zuschauer bereits vertraut zu sein glaubten – in der TNG-Nachfolgeserie als stark veränderte Person. So wie die Föderation größere Disruptionen durchlaufen hat, ist auch er nicht unberührt vom Wandel der Gezeiten. Picard tritt uns zu Anfang als verbitterter und tief gefallener Mann gegenüber, und trotz seiner Wiederannäherung an die Sternenflotte im Gefolge der Ereignisse aus Season eins wird er niemals wieder die Statur früherer Tage an Bord der Enterprise-D zurückerlangen.
Der Admiral a.D. präsentiert sich uns als jemand, dessen Rationalität ebenso wie seine Moral ein Stück weit porös geworden sind. Dies lässt sich sicherlich aus dem schmerzhaften Werdegang seiner Figur erklären, die seit der Ära der Kinofilme erhebliche Veränderungen durchlebte und mit der vorzeitigen Beendigung seiner Sternenflotten-Karriere in eine veritable Sinnkrise geraten ist. Der ‚neue‘ Picard stellt sich als fehlbare Figur dar, die von verstrichener Zeit und veränderten Lebensumständen geprägt worden ist und größere Verbindung zu Jenen sucht, an denen ihm etwas liegt. Sachprobleme werden nun von ihm weniger nüchtern und kalkuliert bearbeitet als Picard oftmals emotional-sentimental auf das reagiert, was vor ihm liegt. Über die Staffeln der neuen Serie hinweg scheint er nie vollständig sicher zu sein, wo er eigentlich (noch) hingehört. Nach seinem langen Sturz infolge des Zusammenbruchs der Sternenflotten-Rettungsmission im Jahr 2385 bleibt er fast durchgehend suchend und tastend nach der Rolle, die er in seinem letzten Lebensabschnitt einnehmen soll. Dies führt an der Schwelle zum 25. Jahrhundert hinein in einen turbulenten Neuaufbruch mit neuen und alten Gefährten. Im Zuge dieser Ereignisse stellen wir fest, dass Picard zwar noch von seinem früheren Leben und Erfahrungen zehrt – manchmal auch von seinem Legendenstatus –, sich aber zu nicht unerheblichen Teilen stark von seinem früheren Selbst entfremdet hat. Der gealterte Picard nutzt persönliches Vertrauen, um seine Ziele zu erreichen. Dabei geht er teils wenig strategisch vor und setzt häufiger auf entwaffnende Ehrlichkeit. Sein Herz ist nun mit starken Gefühlen gefüllt, von denen er sich stärker leiten lässt und die er bewusst nach außen trägt. Dieser Wandel seines Wesens wirkt sich geradezu bipolar auf seine Umgebung aus. Picard ist ein und derselbe Mann, der bereit war, alles zur Rettung von Millionen Leben aufs Spiel zu setzen (Romulaner), und doch ist genau er der Mann, der in Staffel drei bereit ist, zum Schutz der Föderation und seiner Familie nicht mehr und nicht weniger als einen Genozid zu erwägen sowie Mord als probates Mittel erachtet (Vadic, Lore). Friedliche Lösungen und Kompromisse im Geist alter Tage sind nicht mehr der Imperativ, dem er folgt. Er agiert sichtlich unnachgiebig und hart gegenüber Feinden, hingegen liebevoll, nachsichtig und moralisch-ratgebend gegenüber Freunden. Damit hat sich bei ihm eine Art doppelter Standard herausgebildet, wie er auf die Welt blickt und diese beurteilt, was ohne Zweifel ein Problem seiner gewandelten Figur darstellt. Picard teilt die Welt jetzt sichtlich in Gut und Böse ein, was ihn gelegentlich zu überstürzten Entscheidungen auf Basis seiner subjektiven Befindlichkeiten verleitet. Ohne Frage weicht Picard damit von der Ethik ab, die ihn früher ausgemacht hat. Das Verantwortungsempfinden, das seinen Charakter stets auszeichnete, legt er nun überwiegend für die zwischenmenschliche Ebene aus, nur noch in zweiter Linie ist es universell-wertebezogen.
Wenn wir aus dem Rahmen des Star Trek-Universums heraustreten, kann man annehmen, dass die Produzenten rund um Alex Kurtzman, Michael Chabon, Akiva Goldsman, Kirsten Beyer und Patrick Stewart selbst ganz bewusst einen veränderten Picard kreieren wollten, der sich vom Idol alter Tage erkennbar absetzt. Diese fundamentale Transformation verspricht ein spannendes Charakterexperiment, im Angesicht des Zeitgeistes der Figur mehr Grauschattierungen zu verleihen. Picard wird mit schwerer Hypothek beladen und situativ schwankend gezeigt; sein Legendenstatus wird unverkennbar angekratzt. Beim ‚neuen‘ Picard vermischen sich fortgeschrittenes Lebensalter, prägende Erfahrungen, aber auch ein gewandeltes Werteverständnis und der Einfluss persönlicher Beziehungen, von der Umgebung einer andersartigen Föderation ganz zu schweigen. Man kann vermuten, das Ziel bestand darin, den überlebensgroßen Captain zu dekonstruieren und im Alter auf ein menschliches Maß herunterzubringen. Ferdinand von Schirach schreibt in seinem Buch Die Würde ist antastbar: „Helden müssen scheitern, es ist ihr Wesen. Sie fallen, auch wenn sie glauben, sie hätten das Richtige getan.“ In dieser Lesart ist es fast unvermeidlich, dass eine Person, die irgendwann zum Helden stilisiert wurde, durch die eigene, im Menschsein angelegte Makelhaftigkeit ihr Heldentum verletzt. Eines ist gewiss: Nie zuvor haben wir so viel Makelhaftigkeit und Scheitern von Jean-Luc Picard gesehen wie in dieser Serie. Picard ist hier am Ende auch nur ein Mensch, mag ihm zuweilen noch der Glanz seiner ruhmreichen Tage anhaften. Jack Crusher hat diesbezüglich ein passendes Bonmot parat: „Je größer die Legende, desto größer die Enttäuschung in der Realität.“ (PIC 3×03) War der TNG-Picard, der so weiterentwickelt und perfekt daherkam, vielleicht nur eine Art Scheinriese, den wir ähnlich verklärten wie dereinst die Vereinigte Föderation der Planeten? Ein Mann, der in bestimmten Jahren seines Lebens weit draußen, an den Grenzen und jenseits der Föderation unterwegs war, und dort Gutes bewirken wollte? Wie viel Gewissheit über die geläuterte Natur eines Jean-Luc Picard oder die einst zum modernen Utopia erhobene Föderation haben wir eigentlich wirklich? Wie sehr konnten wir dem trauen, was uns TNG präsentierte? War das nicht alles einfach nur ein schöner Traum, aus dem wir nun erwacht sind?
In einer Ansprache vor Kadetten wird der Kanzler der Sternenflotten-Akademie, Admiral Picard, noch einmal zu alter Größe auflaufen. Er wird das Folgende sagen:
„Je älter ich werde, desto mehr komme ich zur Überzeugung, dass die wahre letzte Grenze die Zeit ist. Beim Kommandieren wie auch im Leben lasten Jene Dinge oft weniger schwer auf uns als jene Dinge, von denen wir wünschten, dass wir sie getan hätten. All das was hätte sein können. Die Zeit bietet uns zahlreiche Möglichkeiten, aber sie gewährt uns selten zweite Chancen.“ (Jean-Luc Picard in PIC 2×01)
Dieser Satz fasst gewissermaßen zusammen, was den ‚neuen‘ Picard ausmacht und was die Serie uns vorexerziert. Es ist ein Mann, der zwar allenthalben von seiner Vergangenheit umgeben ist, der sich aber – nolens volens – ein gehöriges Stück von ihr gelöst hat. Und so verfolgen wir jemanden, der in einer imperfekten, zerrütteten Welt auf seine alten Tage noch einmal von vorn anfängt, der das Was-wäre-wenn stärker an sich heranlässt. Dabei ist er zuweilen auf der Suche nach Orientierung und Halt, irrt, stolpert, fällt, steht wieder auf, macht irgendwie weiter. Es ist niemals zu spät, jemand Neues zu werden, mit allen Höhen und Abgründen, die dazu gehören. Oder um es mit Sokrates auszudrücken: „Das unerforschte Leben ist nicht lebenswert.“