Kapitel 11 – „Ich spüre das Raum-Zeit-Kontinuum, ich bin keine Uhr“ – Guinan, Temporalübelkeit und Weltschmerz

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Steckbrief
Vorangegangene Serie(n): TNG (Season 2 – 6)
Filme: Star Trek VII; X
Auftauchen in PICARD: Staffel 2
Spezies: El-Aurianerin
Geboren: irgendwann vor dem späten irdischen 19. Jahrhundert, El-Auria
Eltern: unbekannt
Rolle in PICARD: ehemalige Barkeeperin der U.S.S. Enterprise-D im Zehn Vorne (2365 – 2371); nun Barkeeperin in Los Angeles, Forward Avenue Historic District, 10 Forward Avenue (wie schon im 21. Jahrhundert)
Kind(er): unbekannt (aber angeblich bereits 23 mal verheiratet)
Schauspielerin: Whoopi Goldberg; Ito Aghayere

 

Unter den wiederkehrenden Gastrollen in TNG eroberte sich die Barkeeperin Guinan bei den Fans einen der vorderen Beliebtheitsplätze. Guinans Figur war eigens für die zu diesem Zeitpunkt in Hollywood bereits sehr erfolgreiche Whoopi Goldberg entwickelt worden, nachdem diese von sich aus an die Produzenten herangetreten war und um eine Rolle gebeten hatte. Diese intrinsische Begeisterung erklärt sich mit einer großen Verbundenheit zu Star Trek seit ihren Kindestagen. Schnell erwies sich, dass Guinan Goldberg wie auf den Leib geschnitten war. Obwohl oft nur in kurzen Szenen zu sehen, bereicherte sie das Figurenensemble beträchtlich und schuf für den ganzen Cast neue Entwicklungsmöglichkeiten. Der ungewöhnliche Charakter mit hohem Wiedererkennungswert füllte eine Lücke, die vor allem auf das Innenleben der Enterprise abzielte. Nicht nur bot Guinans Gesellschaftsraum, das Zehn Vorne, ein Ambiente für private Gespräche und Momente abseits der geschäftsmäßigen Sternenflotten-Routine.

Die salomonisch alte El-Aurianerin mit Vorliebe für große Hüte strahlte Würde, Klugheit und Ruhe aus und präsentierte sich ihres Zeichens als aufmerksame Beobachterin, Zuhörerin und Menschenkennerin. In diversen Episoden spendete sie denkwürdige Weisheiten und Ratschläge und half damit verschiedenen Crewmitgliedern, sich selbst zu finden (Data, Worf, Geordi La Forge, Ro Laren, Deanna Troi, Beverly Crusher, Wesley Crusher usw.). Guinan fiel mit ihren Anregungen und Fingerzeigen niemals mit der Tür ins Haus, sondern verstand es vortrefflich, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Damit war sie ein Counselor in ganz eigener Sache. Vor allem aber positionierte sie sich als zivile Beraterin von Captain Jean-Luc Picard, mit dem sie seit jeher ein besonderes Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis verbindet. In mehreren TNG-Folgen bewies Guinan, dass hinter ihrer vermeintlich humanoiden Gestalt geradewegs metaphysische Begabungen verborgen sind. Besonders herausragend ist ihr intuitiver sechster Sinn für die Integrität der Zeitlinie. Es ist wenig überraschend, dass auch die Verbindung zu Picard letztlich mit den eigenwilligen Windungen des Raum-Zeit-Gefüges zu tun hat. Obwohl die Barkeeperin den anderen Besatzungsmitgliedern ihr Ohr und ihr Herz lieh, erfuhren wir zu Serienzeiten nur vergleichsweise wenig über ihre Biografie oder ihre Spezies. Dass sie so mysteriös und ein Stück weit in der Schwebe verblieb, war ohne Frage Teil ihres Geheimrezepts.

Sie sind nicht vergleichbar mit anderen Barkeepern.“ (Ro Laren in TNG 5×03)

Guinan verfügt über Fähigkeiten, die wir nicht so leicht erklären können.“ (Jean-Luc Picard in TNG 3×15)

Nach der Zerstörung der Enterprise-D im siebten Kinofilm Treffen der Generationen verloren sich Guinans Spuren, und wir sahen nicht mehr viel von ihr. Genau genommen war es nur noch eine kurze Szene, wie sie in Nemesis bei William Rikers und Deanna Trois Hochzeit unter den Gästen weilte und sich von Geordi La Forge entlocken ließ, wie oft sie bereits in ihrem Leben verheiratet gewesen ist. Zu dessen Verblüffen nannte sie die Zahl ‚23‘ und stellte fest, sie habe keine Ambitionen mehr, diese weiter in die Höhe zu treiben. Kurz darauf sah sie nach Worf, der eindeutig zu viel romulanisches Ale konsumiert hatte. Als die Vorbereitungen für Season zwei von PICARD anliefen, lud Patrick Stewart Whoopi Goldberg in der von ihr moderierten Show The View öffentlichkeitswirksam ein, die auch prompt zusagte. Mehr als zwei Jahrzehnte später bringt PICARD Guinan entsprechend zurück und rückt auch sie in ein neues Licht. Nun tauchen wir tief hinab in eine wichtige Station von Guinans Vergangenheit und bekommen tatsächlich mehr über ihren nebulösen Hintergrund enthüllt. Es ist daher an der Zeit, diesen faszinierenden Charakter in seiner Gänze zu betrachten und dadurch den Bogen zwischen TNG und PICARD zu schlagen.

 

Was wissen wir eigentlich über Guinans Vergangenheit?

Wir kennen lediglich einige Versatzstücke aus Guinans bewegtem Leben. Sie verschlug es zum ersten Mal im ausklingenden 19. Jahrhundert auf die Erde. Unter falscher Identität tauchte sie dort für längere Zeit unter, um sich vor ihrem Vater zu verstecken. Zu diesem Zweck nahm sie die Rolle einer wohlhabenden Dame an, die in San Francisco lebte und in gesellschaftlich privilegierten Kreisen verkehrte (TNG 5×26; 6×01). Guinan verstand sich rasch als Beobachterin, die Studien in eigener Sache anstellte.

Ich mische mich niemals ein. Ich höre zu.“ (Guinan in PIC 2×04)

Da Guinan ausgesprochen neugierig auf die Menschen war, ja bald schon eine regelrechte Faszination für diese – von ihrem Standpunkt aus – so vergleichsweise primitive und doch überaus ungewöhnliche Spezies entwickelte, führte sie in ihrer Residenz zahlreiche angeregte Gespräche, beispielsweise mit Schriftstellern, die sich Gedanken über die (ferne) Zukunft machten. Dabei stellte Guinan fest, dass viele Menschen in diesem Jahrhundert noch Probleme hatten, sich der Vorstellung zu öffnen, die Erde könnte nicht die einzige Welt in der Galaxis sein, auf der Leben existiert, sondern lediglich eine unter unzähligen. Guinan war da anderer Ansicht und vertrat die Auffassung, dass die Erde in dieser neuen Weltanschauung (deren Realität ihr natürlich längst bekannt war) keineswegs an Wert verliert, denn „ein Diamant ist immer noch ein Diamant“. Es ist nicht ohne Ironie, dass Guinan, die so begierig darauf war, die weitere Entwicklung der Terraner kennenzulernen, bald schon unfreiwillig mit deren ferner Zukunft in Kontakt treten würde, indem ihr Data, Jean-Luc Picard und andere Mitglieder der TNG-Besatzung im Jahr 1893 begegneten. Doch dazu an späterer Stelle mehr.

Zu einem Zeitpunkt X, möglicherweise bei Ausbruch des Dritten Weltkriegs, verließ Guinan die Erde wieder und kehrte zu ihrer Heimatwelt El-Auria (mutmaßlich irgendwo im Grenzbereich zwischen Beta- und Delta-Quadrant gelegen) zurück. Als die Borg in den frühen 2290er Jahren ins el-aurianische System eindrangen, große Zerstörung anrichteten und die Bevölkerung zu assimilieren begannen, setzte sich ein gewaltiger Exodus in Gang, in dessen Verlauf sich die überlebenden El-Aurianer in alle Winde zerstreuten (TNG 2×16). Viele von ihnen nahmen eine jahrelange Flucht in Kauf, um dem Horror des Borg-Kollektivs zu entkommen, und doch würden viele von ihnen dauerhaft traumatisiert bleiben. Wann Guinans eigene Flucht einsetzte, ist unklar, ebenso, ob sie die einzige Überlebende ihrer Familie war, doch in Zeitsprung mit Q räumt sie ein, sie habe den Angriff der Borg auf ihre Heimatwelt nicht selbst mitbekommen, sondern davon sei ihr nur erzählt worden. Sie hat sich demnach zu dieser Zeit nicht auf ihrer Heimatwelt aufgehalten, doch wie andere ihres Volkes strebte sie weg von El-Auria. Schließlich langte sie auf ihrer Flucht an Bord der S.S. Lakul (ein Schiff, das die Flüchtlinge weiter transportiert hatte) in Reichweite der Föderation an. Die Lakul geriet allerdings in ein geheimnisvolles Energieband, das alle 40 Jahre die Galaxis durchstreift und in das Raumphänomen namens Nexus führt. Unter dem extrem starken Druck zerbrach schließlich die Außenhülle der Lakul und auch des zweiten Flüchtlingsschiffes, S.S. Robert Fox. Zu diesem Zeitpunkt gelang es der U.S.S. Enterprise-B, gerade auf Jungfernfahrt unterwegs, 47 Überlebende von der Lakul herüberzubeamen, unter ihnen Guinan und Tolian Soran, der nach kurzem Kontakt mit dem Nexus fortan alles daran setzen würde, in dieses Reich der zeitlosen Illusionen zurückzukehren (VII: Treffen der Generationen). Auch für Guinan, die im Zuge der Borg-Invasion El-Aurias viel Schmerz und Verlust erlitt, war der Nexus und die Möglichkeit, in der Welt der Fantasie so viele verlorene Seelen wiederauferstehen zu lassen, wie das „Innere des Glücks […], in das man sich einwickelt wie in eine Bettdecke.“

Als die Borg unsere Welt zerstörten, wurde mein Volk durchs ganze Universum zerstreut. Und doch überlebten wir.“ (Guinan in TNG 3×26)

PICARD fügt dem Leben von Guinan eine weitere Facette hinzu: Wir erfahren, dass sie im Jahr 2024, wohin es Picard und die La Sirena-Crew verschlägt, eine Bar in Los Angeles betreibt. Im späten 24. Jahrhundert wird sie an exakt jenen Ort zurückkehren und die ehemalige Bar in neuer Form wiederbeleben (PIC 2×01; 3×01). Für Picard, der zu diesem Zeitpunkt der Sternenflotte den Rücken gekehrt haben wird, soll sie zu einer Art Refugium werden.

Diese Bar hier ist von großer Bedeutung für mich.“ (Jean-Luc Picard in PIC 3×04)

 

Was macht die Verbindung zwischen Guinan und Picard aus und wie lernten sie sich ursprünglich kennen?

Wie auch Guinan selbst bleibt ein wenig geheimnisvoll, was die zu TNG-Zeiten mehrfach beschworene spezielle Verbindung zwischen ihr und Picard ausmacht. Riker gegenüber sagte sie in Angriffsziel Erde – als sie annehmen musste, Picard verloren zu haben –, ihre Beziehung sei „über Freundschaft und Familienbande“ hinausgegangen und dass sie es gewohnt gewesen sei, dass er stets Zeit für sie gefunden hatte. Spürbar war ganz ohne Zweifel stets das enorme Vertrauen, das zwischen ihr und Picard bestand und besteht. Für jemanden, der weder Uniform noch Rang bekleidete und damit in jeder Hinsicht außerhalb des Kommandostabs der Enterprise stand, nahm Guinan – gefragt oder ungefragt – für sich in Anspruch, Picard sehr offen ihre Meinung zu sagen und ihm bisweilen ins Gewissen zu reden (TNG 2×09; 3×15; 5×23). Dass er dies zuließ, ist bemerkenswert, umso mehr als die El-Aurianerin gelegentlich aus höchst vagen, empirisch ungeklärten Intuitionen heraus agierte und dem an sich streng rationalen Picard damit abverlangte, sich auf die Spur eines Bauchgefühls zu begeben. Nach eigenen Aussagen, ‚fühlte‘ und ‚wusste‘ sie bei mehreren Gelegenheiten, dass ‚etwas nicht stimmt‘. Sie berichtete, dass sich ‚alles verändert‘ habe oder nichts mehr so sei, ‚wie es sein sollte‘. Oft vermochte Guinan nicht zu benennen, was sich verändert hatte, jedoch empfand sie den Status quo als seltsam ‚falsch‘, in Extremfällen gar einen ‚einzigen großen Fehler‘. Picard gab dem – wenn auch manchmal zu Anfang etwas widerwillig – Raum und schenkte Guinan das erforderliche Vertrauen. Infolgedessen überdachte er auch seine eigenen Ansichten und Entscheidungen in fundamentalen Fragen. Letztlich erwies sich bei mehreren Anlässen, dass Guinans Instinkte in Bezug auf die Kompromittierung der Zeitlinie richtig gewesen waren (TNG 3×15; 5×01).

Ich habe Ihre Hand gehalten, während Sie durch diplomatische Katastrophen geschifft sind. Ich habe gesehen, wie Sie sich unbekannten Gefahren gestellt haben. Wir sind gemeinsam durch Universen gesprungen.“ (Guinan in PIC 2×01)

Immerhin wissen wir, wie sich die erste Begegnung zwischen ihnen zugetragen hat: nämlich, wie könnte es anders sein, im Zuge eines Raum-Zeit-Paradoxons. Wie oben bereits angedeutet, traf Guinan Picard – für sie zum ersten Mal – im Jahr 1893, als er während einer Mission eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert absolvierte. Diese diente dem Ziel, die Bedrohung durch die Devidianer abzuwenden, welche menschliche Lebensenergie in diesem Zeitalter ‚ernteten‘, um sich auf ihrer Heimatwelt davon zu ernähren.

Kennen Sie mich?“ – „Ja, sehr gut.“ – „Und kenne ich Sie?“ – „Noch nicht. Aber das werden Sie.“ (Guinan und Jean-Luc Picard in TNG 6×01)

Als Guinan bei einer Auseinandersetzung in einer Höhle verletzt wurde, blieb Picard unter Riskierung seines eigenen Lebens bei ihr, um sie zu pflegen, ehe er wieder in seine Zeit zurückkehrte. Guinan (die in dem Fall praktischerweise nicht der Obersten Direktive unterlag) erfuhr von ihm zu diesem Zeitpunkt, dass er aus dem 24. Jahrhundert kam und hier war, um eine tödliche Bedrohung für die Erde abzuwenden.

Ich wollte nicht, dass Ihnen irgendetwas zustößt. Sie bedeuten mir viel zu viel.“ – „Sie wissen eine ganze Menge über mich.“ – „Glauben Sie mir, in der Zukunft, da wird das Blatt sich wenden.“ – „Werden wir Freunde?“ – „Oh, es geht weit über Freundschaft hinaus.“ – „Oh, aber ich muss noch 500 Jahre darauf warten. Und wenn wir uns treffen, werde ich Ihnen hiervon nichts erzählen können.“ – „Nein. Was mich betrifft, war ich noch nicht auf dieser Mission.“ – „Was ist das?“ – „Das ist Geschichte, die sich selbst erfüllt.“ (Jean-Luc Picard und Guinan in TNG 6×01)

Fraglos hat Picard bei ihr einen bleibenden Eindruck hinterlassen, und Guinan war schon immer außergewöhnlich begabt, das Wesen von Menschen zu lesen, Besonderheiten und Potenziale zu erkennen. Aufgrund besagter Begebenheit in der Vergangenheit wusste sie von ihm, bevor er sie kannte, und es ist anzunehmen, dass sie irgendwann den Kontakt zu ihm hergestellt hat, wahrscheinlich noch als Picard in jüngeren Jahren war. Im Laufe von TNG wird immer wieder deutlich, was für eine herausragende Meinung Guinan von Picard hat, doch dies bezieht sich nicht nur auf ihr persönliches Verhältnis. Ähnlich wie Q, allerdings mit deutlich mehr Sympathie und Wohlwollen, scheint sie in ihm eine Art von Protagonisten der Menschheit wahrzunehmen und sich zu wünschen, dass diese durch seine verantwortungsvollen, wegweisenden Taten weiter reifen kann. Dass gerade sie eine besondere Bindung an ihre jahrhundertelange ‚Wahlheimat‘ Erde hat, wird aus ihrer Vergangenheit überdeutlich.

Solange es Menschen wie Sie gibt, die an Ihren Idealen festhalten, werden Sie am Ende siegen, auch wenn es ein Jahrtausend dauert.“ (Guinan in TNG 3×26)

PICARD vertieft dieses gekoppelte Doppelverhältnis Guinans zur Menschheit und zu Jean-Luc Picard.

 

Wie reagiert Guinan anno 2024 auf Picard und inwiefern erkennt sie ihn?

Im Jahr 2024 sucht Picard sie in Los Angeles auf. Guinan weiß anfangs nicht, um wen es sich bei ihm handelt, und sie fühlt sich von ihm belästigt. Für sie ist er nur ein nervender alter Mann, dessen Motive sich ihr nicht richtig erschließen. Die El-Aurianerin befindet sich im wahrsten Sinn des Wortes auf dem Abflug. Sie steht unmittelbar davor, ihre Bar für immer zu schließen, schweren Herzens ihren geliebten Pit Bull Luna (wieder so eine Gemeinsamkeit; auch Picard hält sich auf seinem Château einen Pit Bull) abzugeben und der Erde den Rücken zu kehren. Auf einer teils leicht unbeholfenen, gefühligen Ebene bemüht sich Picard – der auf der Suche nach einem gewissen „Wächter“ ist, auf den ihn die Borg-Königin hingewiesen hat – das Vertrauen der jungen Guinan zur gewinnen. Zuerst fällt dieser verwundert auf, dass er mit Luna gut umgehen kann und sie, die sie „Fremde eigentlich nicht ausstehen“ kann, sogleich Vertrauen zu ihm fasst. Dann eröffnet Picard, dass er um ihre Identität als El-Aurianerin weiß, die er als das bekannte Volk von „Zuhörern“ charakterisiert (was er hier womöglich auch als Chiffre für ‚Wächterin‘ meint, denn anfangs glaubt er, bei Guinan handele es sich um besagte Person, die er finden muss). Dies führt bei Guinan allerdings noch nicht zum gewünschten Ergebnis, da sie sich kurzerhand die Flinte schnappt, die sie hinter ihrem Bartresen deponiert hat (wie übrigens ihr Alter Ego in TNG 4×17) und ihn bedroht. In Guinan keimen nämlich schlimme Befürchtungen, es könnte sich bei Picard um ein anderes Wesen handeln, das sich lediglich als Mensch ausgibt oder zumindest im Auftrag Außerirdischer handelt. Wer weiß, vielleicht versteckt sie sich immer noch vor ihrem Vater und argwöhnt, er könnte sie letztendlich gefunden haben. Dies bleibt offen.

Seit ich auf diesem Planeten lebe, kann ich an einer Hand abzählen, wie oft es vorkam, dass jemand wusste, dass ich eine El-Aurianerin bin. […] Wenn jemand hier aufkreuzt, der weiß, wo ich herkomme, dann sind die meist auch nicht von um die Ecke, planetarisch gesprochen.“ (Guinan in PIC 2×04)

Picard wird nicht müde, einen neuen Anlauf zu starten, um Guinan zu überzeugen, dass er sie kennt und von ihm keine Gefahr ausgeht. Er spricht Worte aus, die das ältere Ich der El-Aurianerin fast 380 Jahre später an exakt jenem Ort – dieser Bar – sagen wird. Daraufhin erlebt die junge Guinan einen rätselhaften Übelkeitsanfall, den Picard ebenfalls einzuordnen weiß.

Was Sie gerade durchmachen, liegt an dem, was ich gerade zu Ihnen gesagt habe. Es waren Worte, die Sie zu mir in der Zukunft sagen werden. Einst haben Sie mir davon berichtet. Es ist viele Morgen her.“ – „Afkelt. Die Zeitkrankheit.“ – „Allein El-Aurianer können darunter leiden. Sie tritt nur dann auf, wenn die Zeitlinie beschädigt wurde.“ (Jean-Luc Picard und Guinan in PIC 2×04)

Picard hat zum einen offenbart, dass er um die besonderen temporalen Instinkte der El-Aurianerin weiß; zum anderen zieht er sie immer tiefer in die Hintergründe seiner Mission hinein, indem er sie darauf hinweist, dass es eine schwerwiegende Kontamination der Zeitlinie gibt, deren Weichen kurz davor stehen, falsch gestellt zu werden. Dadurch gelingt es ihm immerhin, die Reinheit seiner Absichten zu demonstrieren, und Guinan hält nicht länger eine Waffe auf ihn gerichtet. Allerdings gedenkt sie ihm auch nicht zu helfen, möchte sie die Erde doch nach wie vor schnellstmöglich verlassen. Als letzte Verzweiflungstat, ehe Guinan das Weite sucht, verrät er ihr seinen Namen. Daraufhin starrt sie ihn gebannt und bedeutungsvoll an, ehe sie Picard aktiv zu helfen beginnt, besagten Wächter zu finden, der sie nicht selbst ist.

Eigentlich habe ich im Vorwort deutlich gemacht, dass ich keine Deutungshilfen seitens der Produzenten in diesem Buch berücksichtige, weil ich den Stoff für sich stehend interpretieren möchte. Bei Guinan erscheint es mir aber geboten, eine kleine Ausnahme zu machen und an dieser Stelle auf ein Interview mit Co-Showrunner Terry Matalas einzugehen, das im Nachgang der Veröffentlichung der vierten Episode von Staffel zwei geführt wurde. So verkündete Matalas:

This Guinan wouldn’t remember Picard because in this alternate timeline, the TNG episode Time’s Arrow never happened. Because there was no Federation, those events did not play out the same. No previous relationship exists. However, she still was likely traveling to Earth and, as we know, she hung around a bit. So this Guinan is different. But she, of course, can sense something is off. She’s going through a kind of time-sickness thanks to Q’s meddling with the timeline.”1 

Matalas argumentierte also, dass aufgrund der durch Qs Intervention veränderten Zukunft, in der Picard einen „totalitären Albtraum“ einer Konföderation vorfindet, auch seine und Guinans Begegnung im Jahr 1893 nie stattgefunden habe, da Picards Zeitreise zurück ins 19. Jahrhundert nie zustande gekommen sei. Ich muss ehrlich sagen, dass ich dieser arg gelenkten Deutungs- und Denkhilfe nicht zwangsläufig folgen würde. Denn meines Erachtens erkennt Guinan Picard sehr wohl. Dies bringt die kurze, aber eindringliche Szene zum Ausdruck, als Picard den letzten Joker zieht und ihr seinen Namen offenbart. Daraufhin ist Guinan nicht nur sichtlich verblüfft, sondern es kommt auch zu einem ziemlich bezeichnenden Anschlussdialog:

In über 400 Jahren werden Sie meine älteste und teuerste Freundin sein.“ – „Picard, ja?“ – „Ja.“ – „Scheiße. Steigen Sie ein.“ (Jean-Luc Picard und Guinan in PIC 2×04)

Setzen wir also voraus, dass Guinan Picard sehr wohl erkennt und sich an ihn erinnert. Selbst wenn Picard aus einer stark veränderten Zukunft des Jahres 2401 kommt, können wir davon ausgehen, dass Guinans Fähigkeit, das temporale Gefüge zu erspüren (und damit, so wie in Die alte Enterprise, auch alternative Zeitlinien), sie auch mit einem instinktiven Bewusstsein für die Bedeutung des Namens ‚Jean-Luc Picard‘ ausstattet – und somit auch für das Band, das zwischen ihnen besteht. Für mich ist daher überdeutlich, dass sie sich bewusst ist, wer er ist und welche Bedeutung er für sie persönlich hat, auch wenn sich diese Erkenntnis auf einer rein emotional-intuitiven Ebene abspielen mag. Dass sie so vergleichsweise lange braucht, bis sie Picard erkennt, kann meines Erachtens anhand verschiedener Punkte erklärt werden:

  • Guinan möchte die Erde so schnell wie möglich verlassen und hat daher keine innere Ruhe mehr. Entsprechend hat sie keine Bereitschaft, sich vor dem Schließen ihrer Bar noch auf irgendjemanden einzulassen. Sie ist in Gedanken schon ganz woanders.
  • Offensichtlich ist ihr Gefühlsleben enorm zerrüttet und kompromittiert angesichts ihrer Enttäuschung über den Niedergang der Erde. Guinan offenbart sich als wütend, fassungslos und tief traurig angesichts der drohenden Selbstzerstörung der Spezies Mensch.
  • Falls Guinan irgendeine Art von Erinnerung an ihre Begegnung im Jahr 1893 haben sollte, so ist dies vom Standpunkt des Jahres 2024 aus gesehen immerhin über 130 Jahre her. Mag Picard auch einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen haben, so dauerte ihre Begegnung damals nicht sehr lang.
  • Damals ging Guinan davon aus, Picard von 1893 aus gesehen in knapp 500 Jahren zu treffen und nicht bereits deutlich früher. Sie ist also in keiner Weise darauf eingestellt, ihm 2024 über den Weg zu laufen.
  • Der Picard, der ihr hier gegenübertritt, ist erheblich älter und hat sich auch in charakterlicher Hinsicht beträchtlich verändert (siehe Kapitel 3).

Eingedenk dieser Punkte sei folgende Rückfrage gestellt: Warum sollte Guinan sofort erkennen, mit wem sie es zu tun hat?

 

In den 2020er Jahren droht Guinan an der Menschheit zu verzweifeln. © 2020-23 CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

 

Was charakterisiert die Guinan des Jahres 2024?

Schnell fällt uns auf, dass sich die Guinan des 21. Jahrhunderts merklich von ihrem späteren Ich im 24. Jahrhundert unterscheidet. Sie unterscheidet sich aber auch von der Guinan des Jahres 1893, die wir im Zweiteiler Gefahr aus dem 19. Jahrhundert (TNG 5×26; 6×01) kennenlernen durften. Sowohl die jüngere als auch die ältere, aus TNG hinlänglich bekannte Guinan präsentierten sich als entspannte, ausgeglichene Persönlichkeiten, die eine große Neugier und Begeisterung für die Menschheit auszeichnete, eine im Kern positiv-zuversichtliche Grundeinstellung zur Erde und ihren Bewohnern. Im Jahr 2024 hat sich dies offenbar ein gehöriges Stück geändert. Zwar identifiziert sich Guinan immer noch mit der Menschheit, doch verzweifelt sie nun an selbiger. Sie sieht den Zug Homo sapiens auf einen selbst verschuldeten Abgrund zurasen, und diese Erkenntnis macht sie derart bedrückt und aufgebracht, dass ihre an und für sich so in sich ruhende Natur Schaden genommen zu haben scheint. Diese Guinan ist erregt, leidenschaftlich, zornig und doch tief erschüttert und betrübt. Guinans Bild der Menschheit fällt auseinander, denn nun schieben sich Zweifel an ihrer Entwicklungs- und Überlebensfähigkeit in den Vordergrund. Sie sind so groß geworden, dass Guinan nicht mehr länger mitansehen möchte, was sich schier unabwendbar vollzieht. So lässt sie Picard mit Tränen in den Augen wissen:

Diese Welt ist ein wahres Pulverfass. Die vernichten gerade ihren eigenen Planeten. Die machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt. Fakten sind nicht einmal mehr Fakten. Einige Wenige hätten die Ressourcen, um für den Rest alle Probleme zu lösen, aber sie machen es nicht. Weil ihre größte Sorge ist, dann selbst weniger zu haben. Die haben nur diese eine winzige Kugel in der Weite der Galaxis, und alles, was diese Spezies will, ist sich streiten.“ (Guinan in PIC 2×04)

Worauf genau Guinan sich bezieht, wird hier nicht konkretisiert, aber man kann recht klar aus ihren Ausführungen schließen, dass es einerseits um die grassierende soziale Ungleichheit geht, die die Gemeinschaftsstrukturen immer mehr unterminiert. Damit befasste sich u.a. die DS9-Doppelfolge Gefangen in der Vergangenheit (3×11; 3×12), als es Benjamin Sisko und Julian Bashir ins ausklingende Jahr 2024 verschlug und sie in das Zustandekommen des historischen Bell-Aufstands verwickelt wurden. Wer genau hinsieht, wird in der Umgebung von Guinans Bar wie in Los Angeles insgesamt eine Menge verarmter Gestalten finden, aber auch Straßen- und Armenmissionen von jener Art, wie sie dereinst von Edith Keeler ins Leben gerufen worden war (TOS 1×28). Andererseits spielt Guinan auf die gesellschaftliche Polarisierung und den Klimawandel an, dessen Auswirkungen im frühen 21. Jahrhundert deutlich zu besichtigen sind (PIC 2×03). Guinan muss die Eugenischen Kriege (oder jedenfalls die erste Etappe davon) miterlebt haben, den Wahn mancher Gruppen, in genetischer Optimierung ihr Heil zu suchen und eine Art Supermenschen zu kreieren, der dann den Globus tyrannisierte (TOS 1×23). Sicher kündigen sich auch die Eskalationsstufen zum Dritten Weltkrieg an, der in der Star Trek-Historie bereits 2026 ausbrechen und nie dagewesene Zerstörungen und Opfer fordern wird (VIII: Der Erste Kontakt; SNW 1×01). Wie wir aus dem historischen Rückspiegel der Star Trek-Zukunft wissen, waren ein Erstarken von Terrorismus und Gewaltherrschaft, eine destabilisierte Staatenordnung und ein neues atomares Wettrüsten Vorzeichen des globalen Vernichtungskriegs (DSC 2×02). Führen aggressive Großmächte vielleicht gerade Kriege gegeneinander, oder überfallen revisionistische Staaten kleinere Länder, um sie sich einzuverleiben, so wie dies in unserer eigenen Gegenwart wieder geschieht, in Regionen, die eigentlich für befriedet gehalten worden sind? Eines ist im Lichte all dessen, was wir über die Star Trek-Geschichte wissen, sonnenklar: Unsere Weltordnung, wie sie nach 1945 mit all ihren Errungenschaften entstand (allem voran Menschenrechte und Völkerrecht), zerbricht bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts vollständig, und es wird unsäglich viel Leid geben, ehe aus dieser vollendeten Dystopie eine kühne, ungeahnte Per aspera ad astra-Erzählung werden wird. Guinan mag all das beobachten, und im Angesicht dessen glaubt sie offenbar nicht (mehr) daran, dass die Menschheit in der Lage ist, die vielen von ihr selbst angefachten Probleme noch unter Kontrolle zu bringen und im Sinne eines gedeihlichen Miteinanders und der Bewahrung der Schöpfung zu lösen.

Diese Welt hatte mehr Potenzial, als ich mir je vorstellen konnte. Aber der Hass, der nimmt kein Ende. Er wechselt nur die Kleider. Dieses Jahrhundert hat die Kapuze gegen den Anzug getauscht. Sie sagen, der Wandel kommt? Dann kommt er viel zu langsam, und der Preis ist viel zu hoch. All das mit ansehen zu müssen, tut weh.“ (Guinan in PIC 2×04)

Picard wird sie nicht nur durch beschwörende Ansprachen, sondern v.a. indem er sie an seiner Mission beteiligt, dazu bewegen können, erst einmal auf der Erde zu bleiben und der Menschheit die Treue zu halten, auch wenn Guinan einige Jahre oder Jahrzehnte später den Planeten verlassen wird, um nach El-Auria zurückzukehren. Als Picards und ihr Weg sich zum Ende von Staffel zwei bis zu ihrer Wiederbegegnung im 24. Jahrhundert trennen, wird ersichtlich, dass Guinan wieder ihren alten Optimismus – ihre Hoffnung – zurückgewonnen und erneut begriffen hat, was sie an der Menschheit trotz all ihrer Defizite so begeistert.

Q hat über Sie gesprochen, aber er hat auch über Sie alle gesprochen. Denn genau das macht die Menschen so einmalig. […] Wenn in Euch Menschen etwas kaputt ist, dann haltet Ihr daran fest. Lebt so lange in der Vergangenheit, bis es repariert ist. Selbst, wenn es schmerzhaft ist. Und all das macht Ihr…um Euch weiterzuentwickeln. Ich hätte fast vergessen, wie einzigartig das in der Galaxis ist.“ (Guinan in PIC 2×08)

 

Was hat Guinan mit Q zu tun?

Dass El-Aurianer und das Q-Kontinuum bereits reichhaltig Erfahrungen miteinander gemacht haben, geht aus gleich mehreren TNG-Episoden hervor. Allerdings muss man das persönliche Verhältnis von Guinan und der Person Qs hiervon klar abgrenzen. Fangen wir also mit ersterem an. In Zeitsprung mit Q wird erstmals mehreres gleichzeitig angedeutet:

  • Die El-Aurianer kennen die Q seit geraumer Zeit und umgekehrt.
  • Die El-Aurianer oder zumindest manche von ihnen verfügen über spezielle Fähigkeiten, sich gegen die Macht der Q zur Wehr zu setzen.
  • Viele Q gelten bei den El-Aurianern nicht unbedingt als bösartig, sondern, im Gegenteil, als „ausgesprochen respektabel“.

PICARD lässt uns wissen, dass die El-Aurianer und die Q einst einen Konflikt miteinander austrugen, dann jedoch übereinkamen, diesen beizulegen. Hierzu vereinbarten sie klare Regeln und Riten, beispielsweise wenn es darum geht, miteinander in Kontakt zu treten. Guinan ist in Besitz einer besonderen, altertümlichen Flasche, die eindeutig nicht-irdischen Ursprungs ist und möglicherweise bereits Jahrtausende alt. Vermutlich gibt es eine gewisse Zahl solcher Phiolen, doch kann es sein, dass sie die Flasche auch gestohlen hat, als sie damals von El-Auria Reißaus nahm. Sie lässt Picard wissen, dass deren Beschwörung angeblich dazu führen kann, einen Q gemäß einem uralten Ritual herbeizurufen.

Vor langer Zeit, nach einem langen kalten Krieg haben mein Volk und die Bewohner des Q-Kontinuums Frieden geschlossen. […] Wir El-Aurianer haben den Glauben, dass Essen und Trinken uns eint. Also hat man den Frieden über eine Flasche geschlossen.“ (Guinan in PIC 2×08)

Was Guinans und Qs spezifische Beziehung angeht, verhält es sich anders. Sie scheinen sich von früher zu kennen und nicht unbedingt positive Erfahrungen miteinander gemacht zu haben. Tatsächlich scheinen beide einander recht gut zu kennen, was auf mehrere bedeutende Begegnungen schließen lässt. Mehr noch: Beide empfinden tiefe Abscheu voreinander. Die letzte Begegnung zwischen Q und Guinan lag zwei Jahrhunderte zurück, als sie in Zeitsprung mit Q (2365) erstmals wieder aufeinandertrafen. Q war sichtlich überrascht ob ihrer Präsenz in Picards Crew; zudem zeigte er sich irritiert über den Namen Guinan, da er sie unter einem anderen Namen gekannt hatte. Welcher Name dies gewesen war, erfuhren wir nicht.

Du – hier? […] Guinan, so heißt du jetzt? […] Wenn es Ihnen recht ist, werde ich die Abreise dieses Wesens erheblich beschleunigen.“ (Q in TNG 2×16)

Wie wir in besagter Folge sahen, grenzte Guinan Q scharf von anderen Vertretern des Kontinuums ab. Q machte dies in ähnlicher Weise und bezeichnete Guinan als „Kreatur“, die nicht sei, was sie vorgebe zu sein. Er nannte sie einen „bösen Geist“, in dessen Nähe immer nur Unglücke geschähen. Welcher Art war ihre Begegnung in der Vergangenheit gewesen, was hatten sie miteinander zu schaffen gehabt? Dies bleibt eine Frage von Spekulationen. Doch sowohl Guinan als auch Q schienen als Solitäre und damit vermutlich in eigener Sache unterwegs gewesen zu sein, als sie aufeinanderstießen. In Zeitsprung mit Q wurde zudem klar, dass Guinan als Fürsprecherin der Menschheit auftritt, während Q die (inzwischen angestammte) Rolle des Herausforderers und Anklägers innehat. Es gab einen Moment der Vertrautheit, in dem Q sich an Guinan wandte und ihr sagte: „Die wissen nicht, was sie erwartet.“ Guinan entgegnete daraufhin, die Föderation und die Menschheit seien sehr wohl in der Lage, sich anzupassen und zu lernen, dies sei ihr großer Vorteil. Sie traten einander wie Antipoden gegenüber, was zum Teil auch ihre gegenseitige Abneigung erklärt. Guinan mochte zudem ahnen, was Q mit der Enterprise vorhatte, und sie fürchtete sich davor. Tatsächlich sollte es der Enterprise nicht erspart bleiben, den Erstkontakt mit dem Borg-Kollektiv herzustellen.

Da Q wegen seiner eigenmächtigen Aktivitäten, bei denen er andere Völker ins Chaos stürzte und quälte, auf Weisung des Kontinuums alle seine Kräfte verlor, gelangte er zum vierten Mal auf die Enterprise (TNG 3×13). Dort ließ Guinan ihn spüren, was sie von seinem erneuten Auftauchen hielt. Da sie bezweifelte, dass Q, wie er behauptete, nun in einen ganz normalen Menschen verwandelt worden sei, stach sie ihm mit einer Gabel in die Hand. Q reagierte darauf aggressiv und erbost und bezeichnete sie einmal mehr als „widerwärtige Kreatur“. Guinan geriet in Rage und erinnerte ihn an seine Taten, denen sie in irgendeiner Form selbst beigewohnt haben muss: Ein Volk nach dem anderen habe er „zu Tode erschreckt“, „wie wilde Tiere gequält“ und „jeden Augenblick ihrer Verzweiflung genossen“. Vor dem Hintergrund dieser Aussage können wir uns also fragen: Hatte Guinan in der Vergangenheit womöglich versucht, andere Völker vor Qs Interventionen zu schützen oder deren Auswirkungen rückgängig zu machen? Nachdem die wolkenartigen Calamarain versuchten, sich Q zu bemächtigen, um ihn für seine Untaten zu bestrafen, intervenierte die Enterprise rechtzeitig. Q fand sich schreiend und um Hilfe flehend auf dem Boden des Zehn Vorne wieder. Guinan jedoch hatte keinerlei Mitleid für ihn übrig und ließ sich vernehmen: „Ja, auch die Mächtigen stürzen.“ Dass jemand wie Guinan so wenig Empathie aufbringt, ist bezeichnend und erhärtet den Verdacht, dass sie schlimme Resultate von Qs willkürlichem Agieren gesehen haben muss. Diese bringt sie mit einem unbelehrbaren und bösartigen Wesen in Verbindung.

Es ist anzunehmen, dass Guinan und Q sich später noch einmal begegneten, doch davon bekamen wir in TNG nichts mehr mit. Was wir allerdings in PICARD zu sehen bekommen werden, ist ihre finale Begegnung, ehe Q stirbt. Aus der Perspektive Guinans ist es hingegen die allererste Begegnung mit ihm. Im Jahr 2024 treffen beide in einem Keller eines FBI-Regionalbüros in Los Angeles aufeinander. Q wollte auf Guinans ‚Ruf‘ mit der rituellen Flasche reagieren, konnte sich jedoch nicht mehr teleportieren, sondern nur mehr auf dem Fußweg zu ihr gelangen, da seine Kräfte immer weiter geschwunden sind. So ähnlich wie Guinan Picard weit früher kennenlernte als er sie, können wir spekulieren, ob aufgrund der Veränderung der Zeitlinie Guinan Q kannte, ehe er von ihr wusste.

Sie? Sie haben mich gerufen? – „Dann sind Sie wohl Q. […]“ – „Und Sie sind diese vielzellige, lärmende, scheinheilige Gewitterhexe namens Guinan. Stimmt ja. Wir sind ja im 21. Jahrhundert. Unsere Wege kreuzen sich erst noch.“ (Q und Guinan in PIC 2×08)

 

Welche Rückschlüsse lassen sich aus Guinans Fähigkeiten auf ihr Volk ziehen?

Nehmen wir die Informationsfetzen, die uns in TNG und PICARD geboten worden sind, zusammen, so können wir zumindest einige Konturen ausmachen, wenn es um die Identität und das Vermögen von Guinans Volk, den El-Aurianern, geht. Folgendes können wir hierzu festhalten:

  • El-Aurianer werden einerseits extrem alt (1.000 Jahre oder weit älter); andererseits altern sie über lange Zeit nicht sichtbar, es sei denn, sie entscheiden dies so (TNG 6×07; PIC 2×01).
  • El-Aurianer sind verschwiegen und weihen andere über sich und ihre Hintergründe möglichst nicht ein. Da sich spätestens zum Ende von Zeitsprung mit Q herauskristallisierte, dass Guinan seit langem damit gerechnet hatte, die Föderation würde früher oder später auf die Borg stoßen, stellt sich die Frage, weshalb sie – auch vor dem Hintergrund ihres eigenen Traumas – nie groß darüber berichtet hatte. Überhaupt scheinen die el-aurianischen Flüchtlinge ein ausgeprägtes Schweigen gewahrt zu haben. Theoretisch hätten sie durch Weitergabe ihres Wissens der Föderation einen Vorteil verschaffen können, doch davon wurde offenbar kein Gebrauch gemacht. Liegt der Grund hierfür in einer Ethik der Nichteinmischung? Denkbar wäre es.
  • El-Aurianer sind Zuhörer, wie Guinan nicht müde wird zu betonen. Sie haben eine besondere Wahrnehmung, Konzentrationsfähigkeit und Erinnerungsgabe, vermutlich auch Lernfähigkeit. Sie halten sich jedoch, wie gesagt, ganz bewusst im Hintergrund.
  • El-Aurianer haben eine besondere Beziehung zur Zeit und zur Erspürung ihres Verlaufs, womöglich auch ihrer alternativen Stränge im Multiversum, wie bereits erwähnt. Dafür spricht nicht nur Guinans Agieren in den oben genannten TNG-Episoden, sondern auch der von Picard provozierte Übelkeitsanfall. Bei ihren Auftritten in PICARD wird Guinan darauf hinweisen, dass für ihr Volk „von jeder einzelnen Tat eine Schwingung ausgeht“ und dieses die Echos dieser Taten und Stimmen widerhallen höre. Zu Agents Wells wird sie sagen: „Meine Spezies glaubt, dass die Dinge sich wie Ebbe und Flut verhalten. Dass unsere Schicksale zusammenlaufen und sich wieder trennen. Und dass Zeit nicht das ist, wofür wir sie halten. Und wir glauben, dass gewisse Dinge passieren müssen, selbst wenn der Preis dafür hoch ist.“ (PIC 2×08)
  • El-Aurianer können die Nähe bzw. Anwesenheit eines Q spüren: In Zeitsprung mit Q hat Guinan Q schon vage gespürt, als er Picard von der Enterprise entführt hat. Auch in der PICARD-Folge Gnade spürt Guinan etwas, als Q in ihrer Nähe auftaucht, und erkennt ihn anhand eben jener Schwingungen. Könnte dies auf eine Art von unterschwelliger Verbindung zwischen den beiden Völkern hinweisen?
  • El-Aurianer haben die Fähigkeit, begrenzte Macht über die Q auszuüben bzw. deren Macht etwas entgegenzusetzen. Dadurch verfügen sie über ein Vermögen, das den allermeisten Völkern in der Galaxis nicht mitgegeben worden ist. Dass die vermeintlich allmächtigen Q eine Art von Friedensabkommen mit den El-Aurianern geschlossen haben, ist in hohem Maße ungewöhnlich. Daraus können wir schließen, dass die El-Aurianer den Q als halbwegs ebenbürtig oder wenigstens im Verhältnis zu normalen Humanoiden erheblich machtvoller erschienen sein müssen, sonst hätte das Kontinuum wohl kaum einen Vertrag mit Guinans Volk geschlossen und ein gleichsam spiritistisches Regelwerk definiert. Zwei Spielarten, in Bezug auf die Q Macht zu projizieren, fallen uns in TNG und PICARD auf:

– Wie wir sehen, sind El-Aurianer unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Potenzial ausgestattet, einen Q herbeizurufen. Auch wenn das Ritual, die Flasche zu beschwören, letztlich – aus Gründen, die sich noch erweisen werden – nicht funktioniert, zeigt sich, dass die Flasche über besondere Eigenschaften verfügt. Ein unterschwelliges Dröhnen erklingt, der Boden bebt, das Licht flackert, und hinter Guinan zerspringen Dutzende von Flaschen. Damit demonstriert sie einen Teil der Fähigkeiten der El-Aurianer, die vermutlich auch das Q-Kontinuum beeindruckt haben.

– In Zeitsprung mit Q schickte sich Q an, Guinan vom Schiff zu befördern. Ob er dies wirklich vorhatte oder nur androhte, bleibt ungewiss; ob er es überhaupt vermochte, ebenso. Guinan vollführte nämlich eine ähnliche Angriffsgeste mit der Hand, was vermuten lässt, dass sie über die Fähigkeit verfügt, die Macht eines Q abzublocken oder beträchtlich abzuschwächen. In der Szene im Zehn Vorne schienen sie sich gegenseitig ‚in Schach‘ zu halten, ehe sie auf Picards Druck hin beschlossen, auf aggressive Umgangsformen zu verzichten.

  • Zudem fällt in Gnade auf, dass Guinan, obwohl sie aus ihrer Perspektive noch keine Begegnung mit Q hatte, diesen relativ schnell ‚lesen‘ und in sein Inneres hineinblicken kann. Dies scheint über die Erkenntnisse, die sie aus dem Ritual der Flaschenbeschwörung gewonnen hat, hinauszugehen. Einerseits wäre denkbar, dass diese Fähigkeit mit dem Umstand in Verbindung steht, dass Guinan unterschiedliche Zeitpunkte und Zeitverläufe erspüren kann, in denen sie bereits Erfahrungen speziell mit diesem Q gemacht hat. Andererseits könnten hier spezielle telepathische Potenziale zur Geltung kommen, das ‚Seelenleben‘ eines Q erforschen zu können.
  • Wechseln El-Aurianer ihre Namen, nach bestimmter Zeit gar ihre Identitäten? Oder haben sie vielleicht mehrere Leben? Qs kurze Bemerkung, in der er sich über den Namen ‚Guinan‘ wunderte, lässt dies offen. Doch wieso sollte man im Laufe seines Lebens unterschiedliche Namen annehmen? Und warum sollte man 23 mal heiraten?

Das Bild über die El-Aurianer ist alles andere als vollständig; immer noch sind es nur ein paar Puzzlestücke, die uns vorliegen. Aber die wundersamen Fähigkeiten laden zum wilden Spekulieren ein. Bei den El-Aurianern scheint es sich in jedem Fall um eine weit überlegene Spezies zu handeln, die allerdings bewusst entschied, ihre Fähigkeiten im Alltag auf ein Minimum zu beschränken oder idealerweise gar nicht einzusetzen. An mehreren Punkten in TNG und PICARD werden Guinan und Q spiegelbildlich zueinander eingesetzt; sie erscheint zuweilen wie Qs friedliche, aufgeklärte Entsprechung. Und was hat es mit den besonderen Potenzialen gerade im Hinblick auf die Q auf sich? Gibt es vielleicht eine gewisse Verwandtschaft zwischen beiden Völkern? Spalteten sich die El-Aurianer einst von den Q ab und entschieden, als fleischliche Wesen leben zu wollen, während das Q-Kontinuum zu einer überheblichen, statischen und im Grunde gelangweilten Gesellschaft gerann (VOY 2×18)? Aus TOS kennen wir noch weitere omnipotente Wesenheiten wie z.B. die Organier oder die Metronen (TOS 1×18; 1×26). Haben die El-Aurianer womöglich etwas mit ihnen zu tun? Antworten werden wir nicht finden, doch allein das Grübeln ist überaus reizvoll.

 

Fazit: Selbst El-Aurianer sind am Ende nur ‚Menschen‘

Unter dem Strich tut PICARD also zweierlei. Zum einen vertieft es unser Wissen um die Hintergründe und das Leben von Guinan und es baut im Zuge dessen auch ihre Verknüpfung mit der Menschheit, Picard und Q aus. Zum anderen zeigt PICARD – analog zu vielen anderen Charakteren – aber auch eine ‚andere‘ Guinan und demonstriert dadurch, dass selbst die weise El-Aurianerin nicht immer dieselbe war. Nein, selbst Guinan durchlebte Phasen der Veränderung und Verzweiflung; Phasen, in denen sie mit sich und ihrem Lebensweg haderte. Dass es abermals mit der Thematik von Zeitreisen und veränderten Zeitlinien verbunden wird, erscheint nur konsequent. Diese andere, jüngere Guinan bereichert von daher die Figur, macht sie anfassbarer und zugleich erweitert es ihre mysteriöse Komponente, weil so vieles, was uns gezeigt wird, wundersam bleibt. Es spornt unsere Fantasie an, uns vorzustellen, wer oder was sich hinter den El-Aurianern tatsächlich verbergen mag.

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