Kapitel 10 – „Ich hatte einen schönen Morgen, bevor all das passiert ist“ – Liam Shaw und das Zeug zum Captain

© 2020-23 CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

Steckbrief
Auftauchen in PICARD: Staffel 3
Spezies: Mensch
Geboren: um 2350, Chicago, Illinois, Vereinigte Staaten von Amerika, Erde
Rolle in PICARD: Captain der U.S.S. Titan-A (2396 – 2401)
Schauspieler: Todd Stashwick

 

Wenige Figuren in PICARD haben so stark polarisiert und an der Fanbasis für Diskussionen gesorgt wie Liam Shaw. Der streitbare Captain der U.S.S. Titan-A wurde zum Gegenstand von Kontroversen ob seines Verhaltens als kommandierender Offizier und seiner (vermeintlichen) Entscheidungen. Alles entzündet sich hierbei an der einen Frage: Ist Shaw ein guter Captain, handelt er nachvollziehbar und verantwortungsvoll? Wie so häufig kann man die Sache von zwei Seiten her betrachten. So ist es bemerkenswert, dass wir Shaws Auftritte und sein Agieren, wenn wir sie Schritt für Schritt verfolgen, zwei ganz unterschiedlichen Erzählungen zuordnen können. In der Brust dieses Artikels schlagen demnach auch zwei Herzen: Eines schlägt pro und eines contra Shaw.

 

Was wissen wir über Shaw und was charakterisiert ihn?

Da es sich bei Liam Shaw um einen neuen Charakter handelt, der ausschließlich in der finalen PICARD-Staffel vorkommt, gibt es lediglich einige Brotkrummen, die wir bezüglich seines Hintergrundes geboten bekommen. Shaw wurde im mittleren 24. Jahrhundert in Chicago auf der Erde geboren (PIC 3×04). Nach dem erfolgreichen Abschluss der Akademie schlug er zunächst eine Ingenieurslaufbahn ein. Als junger Offizier diente Shaw – der sich selbst bodenständig als „alten Schmiermaxe“ bezeichnet – an Bord der U.S.S. Constance. Während der ersten Borg-Krise Anfang des Jahres 2367 war diese zusammen mit 40 anderen Raumschiffen der Sternenflotte an der historischen Schlacht von Wolf 359 beteiligt. Als das Schiff schwer beschädigt wurde, kam es zu einer Evakuierung, doch – wahrscheinlich aufgrund von weitreichenden Systemausfällen und Zerstörungen – standen nicht genügend Rettungskapazitäten für die Überlebenden zur Verfügung. Shaw war einer von zehn Offizieren, die von einem Lieutenant aus 50 Besatzungsmitgliedern ausgewählt und in die letzte einsatzfähige Rettungskapsel beordert wurden. Auf diese Weise entkam er dem Untergang der Constance und musste sich fortan posttraumatischem Stress und einer Überlebensschuld stellen. Vieles deutet darauf hin, dass Shaw eine harte Rekonvaleszenzzeit durchlebte, woraufhin er zwar wieder in den aktiven Dienst zurückkehren und seine Karriere fortsetzen konnte, allerdings ein schwieriges psychologisches Profil verblieb (PIC 3×02).

Wie einige andere Offiziere auch, die Wolf 359 und das durch die Borg verursachte Inferno erlebt hatten, legte es sich Shaw zurecht, Jean-Luc Picard eine Mitschuld am Geschehen zu geben. Ähnlich wie anfangs Benjamin Sisko, der an Bord der U.S.S. Saratoga u.a. seine Frau Jennifer verlor und so zum Witwer und alleinerziehenden Vater wurde (DS9 1×01; 1×02), glaubt Shaw, Picard habe nicht genug Widerstand gegen seine Assimilation geleistet, habe sich zu leichtfertig zum vernichtenden Instrument der Borg machen lassen, dessen Wissen als Flaggschiff-Kommandant dann gezielt und systematisch von den kybernetischen Invasoren genutzt wurde, um gegen die Sternenflotte vorzugehen. Shaw begründet seine Sichtweise damit, Picard sei der einzige Borg gewesen, „der so tödlich war, dass sie ihm einen gottverdammten Namen gaben“ (PIC 3×04). Im Gegensatz zu Sisko, der nach einigen Jahren Abstand gewann und in seinen neuen Aufgaben auf DS9 eine Perspektive für sich fand, verhärtete sich Shaws Sicht der Dinge und damit sein latenter Hass auf Picard. Dennoch kämpfte er sich im Laufe der Jahre immer weiter aus dem einschneidenden Erlebnis als Jungoffizier heraus, wobei offenbar die Struktur und die Regeln der Flotte eine wichtige Rolle spielten, da sie ihm Halt und Sicherheit vermittelten. Auf diese Weise verstärkte sich Shaws Bestrebung, möglichst dicht entlang der Protokolle und festgelegten Vorgehensweisen der Raumflotte vorzugehen und damit die Funktionsfähigkeit und den Schutz seiner anvertrauten Offiziere sicherzustellen.

Im Jahr 2396 übernahm er, wie es scheint, erstmals ein Kommando; ihm wurde die U.S.S. Titan-A anvertraut, ein Schiff der erneuerten Neo Constitution-Klasse, welches verschiedene Hüllenbestandteile und Komponenten der vorherigen U.S.S. Titan der Luna-Klasse (X: Nemesis; LD 1×10) enthält, darunter Teile des Schiffsrahmens, die Warpspulen, den Gondelschildmechanismus und die Computersysteme. Dadurch sollte die im Jahr 2398 aufgrund starken Schadens vorzeitig außer Dienst gestellte Titan, die im Zuge ihrer Stabilisierungsmissionen im Beta-Quadranten selbst zur Legende geworden war, geehrt werden und ein eigener, hybrider Schiffstyp entstehen. Als kommandierender Offizier der Titan absolvierte Shaw laut eigener Aussage bis zum Herbst 2401 insgesamt 36 Missionen (PIC 3×01). Anschließend beaufsichtigte er ein weiteres Refit-Programm, bei dem die Titan umfassend upgegradet wurde. Glaubt man den Star Trek: Picard Logs (Social Media-Begleitung zur dritten Staffel) änderte sich im Zuge dieses Refit-Programms das Design der Titan-A beträchtlich, und ein neuartiger Typ Raumschiff nahm Gestalt an, der bewusst optische Anleihen bei der allerersten Titan aus den 2290er Jahren (Shangri La-Klasse, von Captain Saavik befehligt) macht. Anschließend läuft das Schiff erneut aus, gerät jedoch schnell in die Wirren einer Formwandlerverschwörung innerhalb der Sternenflotte (PIC 3×02).

Shaw erscheint als jemand, der in großer Regeltreue die Zügel seines Kommandos straff hält und sich von außen höchst ungern hineinreden lässt. Zugleich scheint die Vermeidung unnötiger Risiken und unvorhergesehener Situationen ein wichtiger Bestandteil seines Führungsstils zu sein. Diese eher defensive Grundhaltung ist durchaus bemerkenswert und erklärt sich nicht lediglich aus dem Umstand, dass er ein Forschungsschiff befehligt. Es wäre denkbar, dass die Sternenflotte ihm in den letzten Jahren wegen seines psychologischen Profils bzw. den Rückständen seiner posttraumatischen Belastungsstörung vermehrt Routinemissionen zuteilte, bei denen er seine ausgeprägte Affinität zu vorschriftsmäßigem Vorgehen ausspielen konnte. In der ersten Szene, in der er uns begegnet, charakterisiert sich Shaw selbst wie folgt: „Ich mag Struktur. Es mag es, wenn Takt und Tempo gleichbleiben, wenn das Timing stimmt.“ (PIC 3×01) Dabei grenzt er sich bewusst und scharf von seinem Vorgänger Riker ab, dessen Kommandostil ihm deutlich zu laissez-faire war. Überhaupt zeigt Shaw wenig Respekt vor den lebenden Legenden, die sich ihren überlebensgroßen Ruf seines Erachtens allzu oft durch einen mutwilligen Bruch der Protokolle und Verfahren erworben haben. Entsprechend ist er der Auffassung, dass gerade Riker, aber auch Picard sich häufig „wilden und gleichermaßen aufregenden wie verantwortungslosen Abenteuer“ hingegeben hätten. Dieses recht zugespitzte Bild könnte einerseits durch eigene Erfahrungen mit Riker (und dessen ‚Hinterlassenschaften‘ an Bord der Titan), andererseits durch die Aktivitäten von Picard und seinen Begleitern in den letzten Jahren (die tatsächlich ziemlich nach Gutdünken waren) genährt worden sein, zusätzlich befeuert durch Shaws traumatisch bedingte Abneigung gegenüber Picard.

Wir werden nichts in die Luft jagen, wir sind nicht auf Feuergefechte aus, Notlandungen… Weder auf erwartete noch auf unerwartete. Na ja, was Ihr Jungs eben so macht. Nein, unsere Antriebe laufen alle rund, unsere Hülle ist intakt, und egal, über welche Oberfläche Sie mit dem Finger fahren, Sie werden keinen Staub finden.“ (Liam Shaw in PIC 3×01)

Angesichts seiner Vorliebe, die Bedingungen seines Kommandos in möglichst jeder Hinsicht und allen Details unter Kontrolle zu behalten, hat Shaw sichtliche Probleme mit dem neuen Ersten Offizier, der ihm ab Frühjahr oder Sommer 2401 zugeteilt wurde. Die Rede ist von Seven of Nine, der schließlich mit Unterstützung von Picard und Admiral Kathryn Janeway ein Quereinstieg bei der Sternenflotte genehmigt wurde. Shaw hat sich Seven of Nine demnach sicher nicht selbst als Stellvertreterin ausgesucht, sondern erhielt diese transferiert, nachdem der Stuhl seines XOs frei war. Vor dem Hintergrund seines niemals voll verwundenen Borg-Traumas, Sevens Vergangenheit als Angehörige der Fenris-Rangers (welche Shaw als linientreuer Soldat verachtet), ihrem Seiteneinstieg in die Ränge der Raumflotte (der sie ohne Akademieabschluss und längere Laufbahn sogleich zum Commander aufrücken lässt) und ihres zwischenmenschlich nicht einfachen Verhältnisses lässt Shaw sie seine Antipathie regelmäßig spüren. Eine besondere Spitze seinerseits ist dabei, dass er sich weigert, Seven of Nine bei ihrem Namen zu nennen; stattdessen spricht er sie mit ihrem Mädchennamen – oder besser gesagt Deadname – Annika Hansen an. Shaw scheint die allgemeine Order ausgegeben zu haben, dass möglichst alle an Bord sie so zu nennen haben – eine Anweisung, die lediglich Fähnrich La Forge sichtlich durchbricht und den XO respektvoll „Commander Seven“ nennt. Auch wenn Shaw hinter den Kulissen durchaus von Seven, ihren Fähigkeiten und ihrem Mut beeindruckt ist (offenbar hat er auch außerhalb des Refits bereits Erfahrung damit gemacht; eventuell handelte es sich um eine gemeinsame Mission kurz vor oder während der Umrüstungsphase), würde er dies vor ihr niemals zugeben.

 

Shaws Kommandostab im Jahr 2401

  • Erster Offizier: Commander Seven of Nine alias Annika Hansen (Mensch/Borg)
  • Leitung medizinische Abteilung: Commander Ohk (Trill)
  • Wissenschaft: Lieutenant T’Veen (Vulkanierin/Deltanerin)
  • Einsatzleitung und Taktik: Lieutenant Matthew Arliss Mura (Bajoraner)
  • Leitung technische Abteilung: unbekannt
  • Kommunikation: Fähnrich Kova Rin Esmar (Haliianerin)
  • Navigation: Fähnrich Sidney La Forge (Mensch)

 

Das Verhältnis zwischen Shaw und seinem XO ist spannungsreich. © 2020-23 CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

 

Wie können wir auf Shaws Verhalten und seine Entscheidungen blicken?

 

PRO SHAW: Erzählung 1

Der neue Jungfernflug seines Schiffes hätte so schön werden können, doch das ist Liam Shaw nicht vergönnt. Alles beginnt damit, dass Admiral a.D. Jean-Luc Picard und Captain William Riker sich – in bester ‚Badmiral‘-Tradition – unter falschem Vorwand auf die Titan begeben. Sie behaupten, zu einer Inspektion anlässlich des Frontier Day an Bord gekommen zu sein und regen Captain Shaw an, sein runderneuertes Schiff zur Demonstration von dessen Leistungsfähigkeit mit hohem Warpfaktor zum Ryton-System zu fliegen, das in entgegengesetzter Richtung des eigentlich vorgesehenen Kurses liegt. Shaw erscheint dies alles nicht recht nachvollziehbar, und er verbittet sich Einmischungen in seine jahrelange, geordnete Führung der Titan, erst recht von einem pensionierten Admiral und seinem Vorgänger, der kein Kommando mehr in der Sternenflotte bekleidet. Gewisse stichelnde Bemerkungen bleiben nicht aus, da Shaw seinen Missmut über die eigentümlich begründete Anwesenheit der beiden Männer – die sein Erster Offizier kurzerhand auf eigenes Ticket vor dem Abflug aus dem Raumdock an Bord nahm – kaum verhehlen kann. Immerhin ist Shaw so kulant und fragt nicht beim Sternenflotten-Oberkommando nach, was die beiden betagten Herren eigentlich auf seinem Schiff zu suchen haben. Er hätte es tun sollen. Denn kurz darauf erweist sich, dass Shaws mulmiges Gefühl in Bezug auf den unangekündigten Besuch von Picard und Riker mehr als angebracht gewesen ist. Mithilfe von Commander Hansen hintergehen die zwei Altoffiziere Shaws ausdrückliche Anweisung, den angeordneten Kurs nicht zu verlassen. Sie bringen die Titan ins Ryton-System am Rand des Föderationsraums und können, ebenfalls mit Hansens Unterstützung, ein Shuttle entwenden und in den Nebel vordringen, in dem ein kleines Schiff geparkt zu sein scheint.

Als Shaw in seinem Quartier erwacht und die feurigen Nebelschwaden an der Kante des Beta-Quadranten in Augenschein nimmt, ist er zu Recht außer sich. Er begibt sich eilig auf die Brücke, und da allzu offensichtlich ist, was Hansen eigenmächtig getan hat, wirft er ihr Insubordination vor und dass sie ihre junge, unter Beobachtung stehende Quereinsteigerkarriere dadurch der Gefahr eines abrupten Endes ausgesetzt habe. Trotz der Lage, in die die Titan gebracht worden ist, fliegt Shaw nicht einfach weg, sondern hält die Position. Da die Sensoren unlängst die Anwesenheit jenes im Nebel befindlichen Schiffes registrieren, zu dem sich Picard und Riker offenbar aufgemacht haben, möchte er wissen, was es damit auf sich hat. Es ist davon auszugehen, dass Hansen ihn inzwischen hat wissen, worum es Picard und Riker geht – nämlich um die Rettung Beverly Crushers aus einer unklaren Notlage –, auch wenn sie selbst die Einzelheiten nicht kennt. Kurz darauf stellt sich heraus, dass die Eleos, Crushers Schiff, und das an sie angedockte Titan-Shuttle im Nebel von einem weiteren aufgetauchten Schiff umkreist werden. Offenbar verwenden diese Fremden einen hochgefährlichen Raumer. Hansens Aufforderung, einzugreifen und Picard und Riker zur Hilfe zu eilen, weist Shaw erst einmal zurück. Nach wie vor erbost über Hansens Befehlsmissachtung, verbittet er sich ihren erneuten Versuch, ihn zu übergehen. Shaw sieht die Gefahr, dass sie bei einem unbedachten Einflug in den Nebel zur Rettung Picards und Rikers in eine äußerst brenzlige Lage geraten könnten, und weist sinnigerweise darauf hin, dass es sich bei der Titan um ein Forschungsschiff handelt und sie, käme es zu einem Kampf, schnell den Kürzeren ziehen würde. Wäre das fremde Schiff in den Föderationsraum eingedrungen, so hätte er eine klare Handlungsgrundlage gehabt, aber da dies nicht geschehen ist, hält er es für unkalkulierbar, in den Nebel zu fliegen. Er fordert Hansen daraufhin auf, die Brücke zu verlassen.

Wir sind ein Forschungs- und kein Kriegsschiff. Und würden die Unbekannten uns angreifen, wären wir unterlegen. Ich riskiere nicht 500 Seelen für zwei Relikte, die sich wegen ein paar Blechmedaillen für Goldjungen halten. Die haben sich ihr Grab geschaufelt und sie mit reingerissen. Halten Sie die Position, La Forge.“ (Liam Shaw in PIC 3×02)

Nach einer Weile, in der die Titan die Situation aus sicherer Entfernung beobachtet hat, zeigt sich, dass die Unbekannten versuchen, sich der Eleos gewaltsam zu bemächtigen, nachdem sie das Titan-Shuttle zerstört haben, um eine Flucht zu verhindern. Nun schweben Picard, Riker und die möglichen Insassen des zivilen Hospitalschiffes eindeutig in Lebensgefahr. Unter Druck Hansens, die die Brücke entgegen Shaws ausdrücklicher Anweisung immer noch nicht verlassen hat, beschließt dieser, dass es nun angebracht ist, Verantwortung zu übernehmen und ein Risiko einzugehen. Er will Picard und Riker trotz ihrem Eigenverschulden nicht ihrem Schicksal überlassen. Ohne dass er für die entstandene Situation irgendetwas kann, lässt Shaw die Titan, nachdem er seine Optionen überdacht hat, per Kurzwarp in den Nebel springen und unterbricht den Traktorstrahl des fremden Schiffes. Dieses Vorgehen schützt die Eleos und erkauft Zeit, ohne allzu aggressiv gegenüber dem unbekannten Schiff aufzutreten (zumindest mag Shaw dies hoffen). Anschließend lässt er sämtliche Insassen der inzwischen schwer beschädigten Eleos auf die Titan beamen. Nun ist jedoch exakt jene Situation eingetreten, die Shaw bereits vor Augen gehabt hat; sie ist sogar noch schlimmer als befürchtet. Denn die Shrike, kommandiert von einer Frau namens Vadic, welche offenbar Verbindungen ins kriminelle Milieu hat, ist bis an die Zähne bewaffnet. Und das bedrohliche Schiff visiert die Titan tatsächlich an. Es ist klar, dass sie keine Chance gegen Vadics Kreuzer haben wird. Nachdem Picard, Riker, die in einem Medipod untergebrachte, schwer verletzte Crusher und ein weiterer Zivilist an Bord geholt wurden, schlägt Hansen vor, die Flucht aus dem Nebel zu ergreifen und anschließend auf Maximum-Warp zu gehen. Doch Shaw will – jetzt wo er schon in diese Situation hineingenötigt wurde – in Erfahrung bringen, was es mit der Anwesenheit der Eleos und des fremden Schiffes so weit draußen auf sich hat. Shaw will sich ein Bild verschaffen, das eine nötige Voraussetzung ist, um qualifizierte Entscheidungen zu treffen.

Wir sind eingeschritten. Ich will wissen, gegen wen und wieso.“ (Liam Shaw in PIC 3×02)

Vadic meldet sich und verlangt die Auslieferung eines gewissen Jack Crusher (das zweite Besatzungsmitglied der Eleos), auf den aufgrund seiner angeblich zahlreichen Vergehen inner- wie außerhalb des Föderationsraums ein beträchtliches Kopfgeld ausgesetzt sei. Shaw weigert sich zunächst, irgendeine Auslieferung vorzunehmen. Weder kennt er die Hintergründe noch ist er, wie er entgegnet, bereit, mit Kopfgeldjägern zu verhandeln. Vadic verbindet dies mit der Drohung, die Titan zu vernichten, sollte Shaw ihrer Aufforderung nicht nachkommen.

Sollten Sie wenden, um zu fliehen, werden Sie alle den Schuss, der Sie tötet, nur durch ein Loch in Ihrer breiten Sternenflotten-Brust sehen.“ (Vadic in PIC 3×02)

Als Demonstration ihrer Absichten lässt sie nicht nur einen ausführlichen Scan ihrer tödlichen Bewaffnung zu; auch schleudert sie das Wrack der Eleos per umgekehrtem Traktorstrahl auf die Titan, die daraufhin in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Schilde werden an mehreren Stellen durchbrochen, und die Außenhülle ist von den Trümmern beschädigt worden. Die Situation hat sich damit noch schlimmer entwickelt als Shaw ohnehin befürchtet hat. Wenig später fasst er ihre prekäre Lage trefflich zusammen:

Es sind 500 Waffen auf uns gerichtet. Versuchen wir zu fliehen, werden wir vaporisiert, sobald unsere Gondeln aufleuchten. Hilfe ist Tage entfernt. Und der Nebel macht jede Form der Langstreckenkommunikation unmöglich. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand im All – wo es keine Wände gibt. […] Wir sind also allein mit dem Schreckgespenst, am Rande des Weltalls und keine Kavallerie in Sicht.“ (Liam Shaw in PIC 3×02)

Shaw sieht sich einem handfesten Dilemma ausgesetzt, das in seiner Wahrnehmung in jeder nur erdenklichen Hinsicht fremdverschuldet wurde: Entweder die eindeutig überlegene Shrike, denen sie nun auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sind, pulverisiert sein Schiff oder er geht auf Vadics Forderungen ein. So beginnt in der Not der Gedanke in Shaw zu arbeiten, dass ihm angesichts ihrer dramatischen Lage und des von Vadic vorgegebenen, ablaufenden Countdowns eine Auslieferung von Jack Crusher möglicherweise eine Option ist, die er ernsthaft erwägen sollte. Bei seinen Recherchen stellt sich dann tatsächlich heraus, dass der junge Mann sich vieler Delikte schuldig gemacht hat, mit unterschiedlichen Tarnidentitäten operiert hat und insofern eine dubiose Gestalt ist (die sich wohl gar mit der intergalaktischen Mafia angelegt hat), bei der Shaw für sich zum Schluss kommt, dass er „das Leben meiner Crew nicht wert“ ist. Möglicherweise ist Crusher infolge seiner Vergehen auf etlichen Welten nicht einmal mehr Bürger der Föderation (dies wissen wir nicht). Ohne dass Shaw Schnellschüsse macht, wächst in ihm unter den schlimmen Umständen die Bereitschaft, den kriminellen Mann an Vadic zu übergeben, ungeachtet der Frage, was diese mit ihm vorhat. Shaw nimmt hier das Recht für sich in Anspruch, sich ganz und gar auf die Regularien der Sternenflotte zurückzuziehen, die außerhalb des Föderationsraums eine andere Prioritätensetzung vorgeben. In einem vertraulichen Gespräch zeigt er zuerst Hansen, dann Picard und Riker, was er über das Geschehene denkt, bringt seine Wut und sein Unverständnis zum Ausdruck und welche Konsequenz er zu ziehen bereit ist:

Sie haben denen geholfen, mein Shuttle zu kapern. Mich überredet, feindlichen Wesen außerhalb des Föderationsraums ans Bein zu pinkeln. Sie haben 500 Leben aufs Spiel gesetzt für Ihre Loyalität zu zwei ausgedienten Haudegen. Sie sind hiermit wegen Ungehorsams vom Dienst enthoben. […] Ich bin drauf und dran, Vadic den Flüchtigen auszuliefern und sie ihrer Wege ziehen zu lassen. […] Die Regeln für den Einsatz außerhalb des Föderationsraums sind völlig eindeutig: Die Sicherheit und der Schutz der Schiffsbesatzung haben Vorrang vor allem anderen.“ (Liam Shaw in PIC 3×02)

So sehr Picard und Riker gegen Shaws Bereitschaft, den Jungen auszuliefern, protestieren, merkt man zugleich auch, dass der Captain nach wie vor mit sich ringt. Shaw ist sich voll bewusst, dass er eine moralisch fragwürdige Entscheidung treffen würde, aber er muss nun die buchstäbliche Suppe auslöffeln, die ihm durch rücksichtsloses Verhalten anderer eingebrockt wurde. Dennoch lässt er bis zum Ablauf von Vadics Ultimatums ein Fenster für Picard offen, Nachforschungen anzustellen und mehr über Jack herauszufinden, u.a. ob er wirklich Beverly Crushers Sohn ist und dies nicht lediglich behauptet. Daran sehen wir, dass Shaw diese potenzielle Lösung nicht leichtfertig treffen will. Letztlich wird Picard – als sich herausstellt, dass es sich um Crushers und seinen Sohn handelt – per admiraler Anweisung (und Reaktivierung seiner Befehlsgewalt) das Kommando über die Titan an sich reißen und damit die Situation selbst in die Hand nehmen. Es kommt daraufhin zu einer Flucht durch den Ryton-Nebel, wo die Titan versucht, der Shrike zu entkommen. Dadurch kommt Picard einer möglichen Auslieferung des jungen Mannes zuvor, die Shaw ganz offenbar wirklich zum Schluss umzusetzen bereit war.

Im weiteren Verlauf wird der als Captain praktisch entmachtete Shaw während der Verfolgungsjagd im Nebel schwer verletzt. Notgedrungen, aber auch missmutig übergibt er Riker den Befehl (PIC 3×03). Dennoch denkt er selbst noch im angeschlagenen Zustand auf der Krankenstation nach, weshalb es ihnen nicht gelingt, die Shrike abzuhängen. Im weiteren Verlauf werden wir einen Shaw erleben, der sich nach der medizinischen Behandlung in sein Quartier zurückzieht. Shaw ist nun seelisch-mental am Boden angelangt: Er ist verwundet und ohnmächtig, sein Schiff in einer dramatischen, beinahe aussichtslosen Lage, die er unbedingt hatte abwenden wollen, und auf der Brücke sitzen mit Picard und Riker ausgerechnet jene Männer, die der Titan das ganze Desaster eingebrockt haben (und die zu allem Überfluss noch um das Vorgehen zu streiten beginnen). Aus Shaws Sicht kann das, was mit ihm und seinem Schiff getan wurde, nur als feindliche, regelwidrige Übernahme bezeichnen. Hinzu kommt, dass die düstere Situation sein altes Trauma wachruft (PIC 3×04). Shaw ist zum Opfer gemacht worden, er ist fremdbestimmt und entmündigt worden, und er kann dieses Gefühl kaum ertragen. Obwohl ihm dermaßen übel mitgespielt wird, lässt er sich beim Versuch, dem rätselhaften Nebel entkommen, dann doch wieder einspannen und beweist seine technischen Kompetenzen beim Kurzschließen der Warpgondeln. Dennoch ist es folgerichtig, dass Shaw – trotz des gemeinsamen Abenteuers, das sie im Ryton-System zu bewältigen haben, um die Titan vor der Shrike in Sicherheit zu bringen – darauf erpicht ist, Picard und Riker vor ein Tribunal zu bringen. Insoweit ist also nicht verwunderlich, dass, kaum sind sie wieder in den Föderationsraum zurückgekehrt, er derjenige ist, der die Sternenflotte kontaktiert und sie über das Geschehene informiert (PIC 3×05). Dass Shaw im weiteren Verlauf der Geschichte doch noch unfreiwillig zu Picards Verbündetem werden soll, kann er zu diesem Zeitpunkt nicht absehen. Er wird weiterhin versuchen, seine Mannschaft unter den immer schwierigeren Bedingungen zu schützen.

Schlussfolgerung: Durch ihr Vorgehen zu Beginn von Staffel drei bestätigen Jean-Luc Picard und William Riker tatsächlich jedes Vorurteil, das Captain Liam Shaw über sie hat. Was die beiden Altoffiziere ihm und der Titan angetan haben, kann aus Sicht eines aufrechten Offiziers wie Shaw nur als manipulativ, egoistisch, kopf- und vor allem verantwortungslos eingestuft werden, und es steht gegen alles, was die Hierarchie ausmacht. Mehr noch: Das leichtsinnige Handeln von Picard und Riker, die Hansen (ein XO, der permanent gegen seine Autorität angeht) dazu brachten, ihren Captain zu hintergehen, kommt einer faktischen Entführung der Titan gleich. Dadurch werden Shaw und seine Crew gleich nach dem Abflug des generalüberholten Schiffes unverschuldet in eine existenzielle Situation gebracht. Während sich die Schlinge um die Titan immer mehr zuzieht, muss Shaw erkennen, dass er vor einem ausgemachten Dilemma steht. Dieses lässt ihm nur wenige Handlungsmöglichkeiten, von denen alle bis auf mutmaßlich eine mit einem enormen Risiko einhergehen. Derart in die Enge getrieben und unter hohen Zeitdruck gesetzt, realisiert Shaw, dass er eine Entscheidung zum Schutz seiner Mannschaft treffen muss. Der Mann übernimmt also unter höchst schwierigen Bedingungen, für die er nichts kann, Verantwortung, setzt in der Notlage klare Prioritäten, und die Sternenflotten-Regularien weiß er hierbei auf seiner Seite. Dass Shaw wütend, entsetzt und außer sich ist über das Resultat des eigenmächtigen Handelns zweier Sternenflotten-Pensionäre ist hierbei allzu verständlich. Unter der anschwellenden Bedrohung, von der Shrike pulverisiert oder geentert zu werden, ist Shaw letztendlich bereit, Jack Crusher auszuliefern. Das bedeutet jedoch nicht, dass er sich diesen Entschluss in irgendeiner Weise leicht gemacht hätte. Doch was bleibt ihm, realistisch betrachtet, anderes übrig? Sein Heldentod in PIC 3×09 wird zeigen, dass Shaw bis zum Schluss bereit ist, für sein Schiff zu kämpfen.

 

CONTRA SHAW: Erzählung 2

Liam Shaw ist einer jener Sternenflotten-Offiziere in leitender Position, die einem gleich in der ersten Szene unsympathisch sind. Dies beginnt bereits damit, dass er einen despektierlichen Umgang mit Seven of Nine pflegt, die er nicht bei ihrem eigentlichen Namen zu nennen bereit ist. Als Picard und Riker an Bord kommen – ein Vorgang, mit dem ein Sternenflotten-Captain durchaus rechnen muss (insbesondere vor einem Jubiläumstag und nach einem Refit) – enthält Shaw ihnen jegliche Begrüßung und Respektsbekundung vor. Gerade für jemanden, dem angeblich die Befehlskette und der Dienst nach Vorschrift über alles geht, ist das ziemlich fragwürdig. Erst heißt Shaw die Neuankömmlinge nicht persönlich an Bord willkommen und schlägt damit das Protokoll in den Wind, und dann fängt er noch vor Picards und Rikers Eintreffen im Speiseraum des Captains mit dem Essen an. Die Begründung ihres angeblich vorauseilenden Rufs ist hanebüchen und rundheraus beleidigend. Wenig später bezichtigt er beide Männer in geradezu absurder Weise des Draufgängertums und stellt ihre jahrzehntelangen Missionen in einem derart verzerrten Licht dar, dass er selbst unmöglich daran glauben kann (in PIC 3×05 wird er bezüglich seiner Vorhaltungen über Picards und Rikers Vergangenheit nachlegen). Bei ihrer Unterhaltung wird relativ schnell ersichtlich, worunter Shaw eigentlich leidet und hierbei eine persönliche Ebene mit dem professionellen Dienst vermischt (wiederum ein Zeichen für Unprofessionalität): Shaw scheint den Sternenflotten-Pensionären ihre Erfolge zu neiden wie auch ihre Fähigkeit, andere für sich zu gewinnen. Er mag ein fähiger Kommandant sein, aber er steht für eine Play it safe-Strategie, bei der er jeglichen riskanten Situationen kategorisch aus dem Weg geht. Dass er entsprechend viele Routinejobs erledigt und wenig erinnerungswürdige Taten produziert hat, ist keine große Überraschung. Wobei man sich durchaus fragen kann, wie Shaw mit dieser Mentalität in all den Jahren bei der Raumflotte durchgekommen ist, wo ihm früher oder später die Realität schwerer Entscheidungen und unvorhergesehener Schwierigkeiten doch eigentlich hätte begegnen müssen.

Shaws Autorität stützt sich auf die Befehlskette, nicht auf Mut, über alle Zweifel erhabenen Humanismus, große Ideale oder Charisma. Mit dem Wissen aus PIC 3×04 bekommen wir dann auch noch die Bestätigung für den Verdacht, dass Shaw über seinen offensichtlichen Neid hinaus eine persönliche Rechnung mit Picard offen hat (oder jedenfalls glaubt er dies). Shaw wird sich als jemand erweisen, der sich aufgrund seines Umgangs mit seinem Trauma in einen pflichtmäßigen Routinearbeiter verwandelt hat, der sich vor allem fürchtet, was potenzielle Unsicherheiten in seine alltägliche Arbeit bringen könnte. Es ist daher keine große Überraschung, dass er Picards und Rikers Kommandostile als latente Bedrohung ansieht. Shaw weiß während der Szene im Speiseraum noch nicht, dass die beiden Seniorgedienten einen potenziellen Plan in der Hinterhand haben (wobei es mehr Seven sein wird, die das Vorhaben proaktiv in die Tat umsetzen wird, indem sie die Titan ins Ryton-System befördert). Ich halte es durchaus für denkbar, dass Picard und Riker anfangs erwogen haben, ihn einzuweihen, doch ihr zaghafter Testballon zerplatzte allzu schnell: Shaws Reaktion ließ in keiner Weise darauf hoffen, dass er ihnen helfen würde. Gleichzeitig standen sie unter enormem Zeitdruck und brauchten ein Schiff mit hohem Warpfaktor, sodass sie das Pferd nicht mehr wechseln konnten. Deshalb haben sie es unterlassen, Shaw einzuweihen – mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.

Nachdem Picard und Riker sich dank Sevens Hilfe mit einem Shuttle zur Eleos abgesetzt haben, wartet Shaw viel zu lange ab. Er ergreift keinerlei Initiative und agiert nur unter dem Druck anderer (insbesondere seines XO, die ihn drängt, der Eleos zur Hilfe zu kommen) bzw. durch äußere Umstände. Halbherzig rettet er die Insassen, aber er verhält sich dennoch nicht verantwortungsvoll, ganz im Gegenteil. Gegenüber Vadic versucht Shaw nicht einmal, Spielräume auszuloten oder ernsthaft zu verhandeln. Er fügt sich allzu rasch und leichtfertig ihren Bedingungen und schwenkt entsprechend auf ihr Ultimatum ein. Er übernimmt die Denkkategorien, die andere ihm vorgeben. Man hat den Eindruck, dass Shaw sich deshalb so an Jack Crusher festbeißt, diesen prompt diskreditiert und ihm üble Absichten unterstellt, weil er sich möglichst rasch und ohne Komplikationen aus der Affäre ziehen möchte. Dafür ist er im Zweifel bereit, seine Moral aufzugeben. Shaws Argumentation, Schiff und Besatzung hätten außerhalb des Föderationsraums Priorität, steht im diametralen Widerspruch zum Asylrecht, das die Föderation Personen gewährt, die bei (Straf-)Verfolgung durch fremde Mächte – und erst recht solche vom Schlage Vadics – um ihr Leben fürchten müssen. Shaws Haltung mag zwar vielleicht einen Ausweg für die Titan offerieren, sie passt jedoch nicht zum Wertekanon der Föderation. Der Umstand, dass Jack Crusher als Mensch wohl auch Föderationsbürger sein könnte (ein Umstand, den er jedoch in keiner Weise berücksichtigt), macht Shaws Entscheidung noch abstruser. Seit wann schätzt die Sternenflotte das Leben ihrer Angehörigen als wertvoller ein als das von zivilen Föderationsbürgern, selbst wenn es sich dabei um Personen mit kriminellem Hintergrund handeln mag? Und da die Föderationsjustiz Jack offenbar ebenfalls sucht, müsste die Sternenflotte doch ein Interesse daran haben, ihn sicherzustellen und ihm einem juristischen Verfahren zuzuführen.

Die Behauptung der Kopfgeldjäger war richtig. Wir beherbergen einen intergalaktischen Flüchtling. […] Dieser Mann erhält genau die Strafe, die er verdient. Genau wie Hansen. Genau wie Sie. […] Sie haben die Feuerkraft von diesem Ding gesehen. Einen direkten Kampf würden wir zweifellos verlieren. […] Vadic hat uns eine Stunde gegeben. Sie haben die Hälfte, um ihn [Jack Crusher] auf die Abreise vorzubereiten.“ (Liam Shaw in PIC 3×02)

Hinzu kommt, dass Shaw nicht einmal weiß, was für ein konkretes Interesse Vadic an Jack hat und sich auch nicht darum bemüht, dieses zu ergründen. Das ist doch grob fahrlässig, denn – wie sich zeigen wird – verbirgt sich hinter Vadics Gier nach Jack eine schreckliche Gefahr für die Föderation, die sich dann auch entfalten wird. Man fragt sich demnach, wie Shaw einen charakterlichen Eignungstest für die Befähigung zum Kommandooffizier bestanden haben soll, wenn er derart utilitaristisch argumentiert, mag auch irgendein nacktes Protokoll auf den ersten Blick seine Position stützen. Im weiteren Verlauf merkt man immer mehr, wie sich Shaw am Glauben festhält, er könnte sein Schiff durch Jack Crushers Auslieferung retten, auf dass er mit seinem Tagesgeschäft fortfahren kann. Entsprechend führt er jede noch so absurde Begründung an, um die Glaubwürdigkeit und Integrität des jungen Mannes durch den Schmutz zu ziehen. So argumentiert er beispielsweise vor Picard, man wisse doch gar nicht, ob er wirklich Beverly Crushers Sohn sei. Welche Bewandtnis hat dies für die Frage, ob man einem Zivilisten Schutz gewähren sollte oder nicht? Dies ist nicht einmal ein Scheinargument und wirkt wie ein billiges Ablenkungsmanöver.

Nachdem Shaw von Picard admirale Anweisungen erhalten hat, kommt es zur Flucht der Titan durch den Ryton-Nebel. Hierbei wird er verletzt und gibt daraufhin bis auf weiteres den Befehl über das Schiff an Riker ab. So weit, so nachvollziehbar. Aber nach erfolgter medizinischer Behandlung legt Shaw eine fehlende Ambition an den Tag, schnellstmöglich wieder das Kommando zu übernehmen. Denn dienstfähig scheint er dann ja wieder zu sein. Stattdessen zieht er sich in sein Quartier zurück und sieht es nicht einmal ein, noch wenigstens mit Ratschlägen zur Verfügung zu stehen (PIC 3×04). Als Seven ihn in seinem Quartier besucht, beschäftigt er sich geistesabwesend mit einem Messer und hat nur noch zynische Kommentare übrig, die einem Offizier seines Ranges unwürdig sind.

Hey, Hansen. Ihre zwei Helden sind ein Segen für mein Schiff. Ist ein super Ausblick.“ – „Können wir reden?“ – „Offiziell, nein.“ – „Inoffiziell?“ – „Auch nicht.“ (Liam Shaw und Seven of Nine in PIC 3×04)

Wie oft haben wir in Star Trek Captains gesehen, die es, nachdem sie sich eine Verletzung zugezogen haben, gar nicht abwarten konnten, auf die Brücke zurückzukehren? Auch wenn Shaw – zugegeben – durch Fremdverschulden von Picard und Riker ursprünglich in die ganze missliche Lage geraten ist, hat er doch eine Führungsverantwortung und Fürsorgepflicht gegenüber seiner Crew, die er in den ersten Folgen nicht müde wurde herauszustreichen. Aber der Mann schaltet auf stur: Wenn die Dinge nicht so laufen, wie er es wollte, ist er bereit, alles hinzuwerfen, sich einen schlanken Fuß zu machen. Erst als Picard ihn offensiv bittet, ihm bei ihrem Plan zu helfen, den ungewöhnlichen Nebel zu verlassen, lässt sich Shaw in seiner angestammten Rolle als ‚Schmiermaxe‘ wieder einspannen, wohl gemerkt ohne dass er an der Ausarbeitung besagten Plans in irgendeiner Weise mitgewirkt hätte.

Wie wenig er sich wie ein verantwortungsbewusster Führungsoffizier verhält, belegt die Szene auf dem Holodeck eindrucksvoll. In Anwesenheit etlicher Crewmitglieder gibt Shaw seinem Frust und seiner Bitterkeit nach und hält Picard – nach inzwischen über 30 Jahren – die Ereignisse von Wolf 359 in persönlicher Weise vor. Selbst wenn wir einmal unterstellen, dass die Ereignisse im Ryton-Nebel Shaw retraumatisiert und an sein tiefsitzendes Ohnmachtsgefühl bzw. seine Überlebensschuld erinnert haben, ist und bleibt dieses Verhalten in höchstem Maße unprofessionell und auch disziplinlos. Shaw gibt hier ein miserables Vorbild vor seiner eigenen Mannschaft ab, was er, wenn auch deutlich zu spät, zu erkennen scheint.

Verzeihen Sie mir. An irgendeinem Punkt ist aus einem charmanten Typen ein Arschloch geworden.“ (Liam Shaw in PIC 3×04)

Inhaltlich ist sein Vorwurf an Picards Adresse grotesk. Shaw dürfte wissen, dass Picard dereinst gegen seinen Willen assimiliert und von den Borg in perfider Weise instrumentalisiert wurde. Eine solche Täter-Opfer-Umkehr geht in keiner Weise konform mit dem Menschenbild, das die Sternenflotte eigentlich für sich reklamiert. Daher kann man auch davon ausgehen, dass Shaw in Picard nur einen Sündenbock für sein inneres Leiden sucht (im Übrigen auch in der Person seines Ersten Offiziers). In der Holodeckszene zeigt sich so deutlich wie nie, dass Shaw seit dreieinhalb Jahrzehnten mit seiner Überlebensschuld hadert und nie eine Antwort auf die Frage gefunden hat, wieso gerade er weiterlebte. Dieser Mann ist offensichtlich ein psychisches Wrack, und er ist sich darüber im Klaren. Es fragt sich daher, wie die Sternenflotte ihm einen Aufstieg bis zum Captain ermöglichen konnte und weshalb Shaw dies überhaupt mitmachte.

Als die Titan sich dann in den Föderationsraum zurück retten kann, setzt Shaw sein kleinlich wirkendes Bedürfnis um, sich an Picard und Riker zu rächen, indem er vorauseilend die Sternenflotte kontaktiert und ihr detailliert über die vergangenen Geschehnisse seit dem Abflug seines Schiffes von der Erde berichtet. Es ist schon etwas fraglich, wieso Shaw eine solche Betonköpfigkeit offenbart und sich an den zwei Sternenflotten-Ruheständlern abarbeitet anstatt sich mit den drängenden Fragen zu beschäftigen, die im Zuge des zurückliegenden Einsatzes aufgeworfen worden sind: Es gibt eine neue Bedrohung durch Formwandler, die Kopfgeldjägerin Vadic und ihr Schiff besitzen das Potenzial, das Grenzgebiet zur Föderation unsicher zu machen, und ihr ausgeprägtes Interesse an Jack ist ebenfalls ungeklärt geblieben. Doch Shaw denkt bloß daran, Picard und Riker einem Tribunal auszuliefern. Nur durch den weiteren Gang der Ereignisse wird er zu einem zähneknirschenden, unfreiwilligen Verbündeten Picards. Ein Teamplayer wird er zu keiner Zeit werden. Dies zeigt sich auch, als Vadic zu einem späteren Zeitpunkt in der Staffel die Titan erobert. Hier irritiert Shaws Verhalten erneut, auch und gerade gegenüber seiner Mannschaft, die er doch eigentlich über alles schützen möchte. Doch sein Reden und sein praktisches Handeln stehen im eklatanten Widerspruch zueinander. Einerseits wirft Shaw Seven vor, dass sie ihn nicht geopfert hat, um Vadic den Zugang zur Brücke zu verwehren („Sie hätten den Turbolift in die Luft jagen müssen!“) und die Führungsoffiziere vor der Geiselnahme zu bewahren. Andererseits schaut er sichtlich tatenlos zu, wie Vadic seine Brückenoffiziere mit dem Tode bedroht und schließlich sogar seine leitende Wissenschaftlerin exekutiert. Warum bietet er sich in diesem Augenblick nicht wenigstens selbst an, wenn ihm seine Verantwortung angeblich so sakrosankt ist? Stattdessen pfeift er die mutige Seven zurück. Was für einem Regelwerk folgt Shaw hier eigentlich? Vermutlich gar keinem. Stattdessen ist dies eine weitere Szene, die wie ein Offenbarungseid daherkommt. Sie belegt, dass dieser Mann dem Rang des Captains nicht gewachsen ist und nie hätte diesen Posten erhalten dürfen.

Schlussfolgerung: Captain Liam Shaw behauptet von sich, ein regeltreuer Offizier zu sein. Doch je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr stellt sich heraus, dass er die Regeln zum eigenen Schutz und als Vorwand verwendet, um für ihn unbequeme oder risikoreiche Situationen tunlichst zu vermeiden. Er offenbart sich als ein schwacher Mann, der auf Nummer sicher gehen möchte. Dafür ist er im Zweifel bereit, seine Verantwortung anderen (Notleidenden) gegenüber zu sabotieren. Besonders schlimm ist, dass Shaws Tendenz, gefährlichen Entscheidungsszenarien aus dem Weg zu gehen, nicht wirklich mit dem Schutz seiner Crew zusammenhängt. Im Gegenteil, verhält er sich doch gerade in Bezug auf seine Führungsrolle immer wieder sprunghaft und verantwortungslos, und seine Mannschaft scheint ihm am Ende beileibe nicht so wichtig zu sein wie er den Eindruck erweckte. Überdeutlich wird dies, während die Shrike die Titan durch den Ryton-Nebel verfolgt und Shaw keinerlei Führung mehr zu übernehmen bereit ist (nicht einmal im moralischen Sinne). Seine instabile, zum Kommando unfähige Persönlichkeit tritt immer mehr zum Vorschein und damit auch die Erkenntnis, dass er sein Trauma bei Wolf 359 nie verwunden hat. Shaw weiß nicht, wohin mit seiner Überlebensschuld und seinen impulsiven Gefühlen, und er findet in Picard ein Ventil. Nur sein Heldentod wird ihm einen Hauch von Würde zurückgeben. Dies ist ein gescheiterter Captain.

 

Die U.S.S. Titan-A durchläuft ein umfassendes Refit-Programm. © 2020-23 CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

 

Eine schillernde Figur, die verschiedene Sichten zulässt

An Liam Shaw scheiden sich die Geister, dies ist anhand der ausgeprägten Kontroversen in Fankreisen überdeutlich zu erkennen. Wie auch immer man ihn einschätzen und deuten mag, so erscheint seine Figur in Season drei über gewisse Strecken wie ein Prisma, durch das man hindurchsieht und Unterschiedliches ausmachen kann. Wir sehen einen durchaus fehlbaren und makelbehafteten Mann, der es sich zuweilen womöglich etwas leicht macht, dem vielleicht auch ab einem gewissen Punkt der Kompass abhandenkommt. Zugleich sehen wir jemanden, der unverschuldet in eine explosive Gesamtlage hineingenötigt wird und darauf reagieren muss, um größtmöglichen Schaden für Schiff und Crew abzuwenden.

Eines lässt sich garantiert behaupten: Shaw mischt das Bild vieler bekannter Sternenflotten-Captains ordentlich auf, aber der Versuch, ihn schnell und einfach zu beurteilen, läuft ins Leere. Darin liegt eine gewisse Kunst der Drehbuchschreiber, denen es gelang, einen schillernden, zuweilen erfrischend anderen Schiffskommandanten zu zeichnen, dessen Handlungen durchaus nachvollziehbar sind, wenn wir uns auf Shaw, seine Erfahrungen und seine Sicht einlassen. Zugleich gibt es eben immer die Gegenseite, die argumentieren wird, dass Shaw den Maßstäben vorangegangener Frauen und Männer, die den Stuhl in der Mitte besetzten, nicht gerecht wird. Eben dieses Perspektivenspiel ist es, welches diese Figur so ungeheuer reizvoll macht. Und es ist eine bleibende Leistung von PICARD, den Kreis derer zu erweitern, die wir trotz all ihrer Schattenseiten und Schwächen am Ende des Tages als (Anti-)Helden ansehen können.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.